Meret Schneider: Mehr Lächeln und Winken
Mit Ausflugszielen ist es so eine Sache. Die Rigi ist da, wie ich feststellen musste, keine Ausnahme. So habe ich kürzlich von Arth Goldau aus den Weg unter die Füsse genommen in Erinnerung an Kindertage, in denen meine Schwester und ich mit Glacé zum Wandern motiviert wurden und dies mit unterschiedlicher Begeisterung und wenig Blick für die Bergwelt auch taten.
Auf dem Weg kaum jemanden getroffen, die verschiedenen Ausblicke auf den Wildspitz genossen und endlich verstanden, wie das Sprichwort “wie Pilze aus dem Boden schiessen” tatsächlich zustande kam, erreichte ich den Gipfel nach kurzem Aufstieg. Schlagartig wurde mir klar, dass eine Bahn auf die Rigi neben der begrüssenswerten Barrierefreiheit auch eine komplette Anstandsfreiheit mit sich brachte und ich ertappte mich dabei, wie der alte weisse Mann in mir die jungen Menschen auf die Bergwelt aufmerksam machen wollte, um sie von ihren Ausblick-Selfies abzubringen, die sowohl Zeit als auch Aussichtspunkt in Anspruch nahmen. So ein Ausblicksselfie ist eine künstlerische Inszenierung von einer Komplexität, der ich mir bis anhin nicht bewusst war und dies respektierend, verliess ich den Aussichtspunkt, um mir im kleinen Restaurant meiner Erinnerung irgendein Wandergetränk zu kaufen, eine Schorle oder wenigstens ein Alpenkräutereistee.
So eine Bahn bringt natürlich neben der Barrierefreiheit für ältere Menschen oder solchen mit Beeinträchtigungen auch die Barrierefreiheit für beflipfloppte Kinder, picknickende Paare und ganze Wandergrüppchen Marke Mammut, die, ganz wie ich, erstaunlich überrascht zu sein schienen, hier oben nicht die unberührte Bergwelt, sondern ein mittlerweile nicht mehr ganz so kleines Restaurant vorzufinden, das zwar auch Älplermagronen und Hefenussgipfel (isst die eigentlich tatsächlich jemand?), aber auch Thai Curry und Kaiserschmarrn im Angebot führt. Es herrschte eine Atmosphäre passiver Aggressivität, die sich wohl aus der enttäuschten Erwartung einer einsamen Bergidylle, kombiniert mit den erodierten Nerven aufgrund Kindergeschrei, Ketchupflecken und Kassenschlangen spies.
Es war klar; man wünschte sich, oder noch besser, alle anderen, weit weg und ich hörte beinahe, wie sich Familienväter innerlich ins Alpamare wünschten, während sich die Gerhard Gadgets unter den ambitionierten Hobbysportlern ebenso ambitioniert vordrängten: wer mit einem Trinkrucksack unterwegs ist, hat schliesslich keine Zeit für Hot Dog-Schlangen, sondern braucht sein Ovo Sport intravenös, mindestens.
In einer Stimmung zwischen Amusement und und leichter Enttäuschung (ja, auch ich hatte mir einen ruhigen Ausblick ausgemalt) begab ich mich auf den Wanderweg nach unten und erreichte nach einem erholsam einsamen Abstieg den Schiffssteg, wo mich ein Schiff mit den Rigibähnli-Nutzer*innen nach Brunnen bringen sollte. Sie waren durchaus zahlreich vor Ort, sodass sich das Szenario Ticketschlange nun mit einer leichten Torschlusspanik mischte, da nicht klar war, ob alle Wartenden Platz haben werden oder ev. auf ein nächstes Schiff gewartet werden musste. Ketchup-befleckte Kinder schrien nun nach Glacé, entnervte Familienväter der Fraktion Dar Vida und Trockenfrüchte hatten ihre Prinzipien längst über Bord geworfen und genehmigten diese widerstandslos und die Gerhard Gadgets checkten ihre Vitalfunktionen nervös mit Blick auf Uhren und Armbänder.
Es war klar: man wünschte sich, oder noch besser, die anderen, weit weg und selbst die überzeugtesten Menschenfreund*innen hegten so langsam Zweifel an unserer Spezies. Gehässige Blicke wurden getauscht, “Tz – Tz”- Laute wurden gezischt, man rempelte und drängte sich aufs Schiff, bis endlich abgelegt wurde. Doch als wir dann, die Schicksalsgemeinschaft auf dem Weg nach Brunnen, ein anderes Schiff, ähnlich überfüllt, kreuzten, änderte sich die Stimmung schlagartig. Familienvater mit Kind, Gerhard Gadget und das romantische Pärchen standen an Bord, lachten und winkten diesen Menschen auf dem anderen Schiff in einer Weise zu, als wären sie seit Monaten auf See und sähen zum ersten Mal wieder Zivilisation. Es wurde von beiden Seiten gelacht und gewunken, ein schönes Wochenende und eine gute Fahrt gewünscht, als könnte man sich nichts Schöneres vorstellen, als zwischenmenschliche Begegnungen. Als wir das Schiff passiert hatten, wechselte ich einen Blick mit dem nun auch Glacé-befleckten Vater und, auf wundersame Weise, lächelten wir uns an. Gerhard Gadget hob das Kind hoch zur Reling, damit es ins Wasser schauen konnte.
Bis zum Verlassen des Schiffes, wo wieder gedrängelt und geschimpft wurde, herrschte eine seltsame Harmonie, an die ich mich nun immer wieder erinnere, wenn im Supermarkt gerempelt wird, im vollen ÖV vier Sitze belegt werden oder einem jemand im Meeting ständig ins Wort fällt. So sehr mich dieser Mensch nun nervt, auf einem Schiff vis à vis würde ich ihn frenetisch begrüssen und irgendwie mögen, das hat etwas Tröstliches.
Meret Schneider, Eintrag bei Wikipedia
Meret Schneider, Eintrag auf der Parlamentsseite
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