Meret Schneider: Merz-Schmerz und die Realpolitik

Meret Schneider: Merz-Schmerz und die Realpolitik
Meret Schneider, Nationalrätin, Grüne Schweiz. (Bild: parlament.ch)

Wer in Deutschland CDU gewählt hat, wähnt sich vermutlich gerade im falschen Film. Mit markigen Worten wurde im Wahlkampf betont, man wolle keinesfalls die Schuldenbremse lockern, sondern erst “reinen Tisch” machen und sämtliche Sparpotenziale ausschöpfen, um zusätzliches Geld für den Bundeshaushalt zu generieren. Auch bei der Migrationspolitik wurde eine Kehrtwende angekündigt und beteuert, man werde Menschen an den Grenzen zurückweisen, selbst wenn sie Asyl beantragen würden – was tatsächlich rechtswidrig und nur mit dem postulierten “Notstand” nach den Attentaten in München, Mannheim und Magdeburg zweifelhaft begründbar wäre.

Man wolle die Wirtschaft durch Steuersenkungen ankurbeln und ein Wachstum generieren, was Geld für Mehrinvestitionen in die desolate Infrastruktur, einen grösseren Wohlstand und endlich wieder eine Stärkung des Wirtschaftsstandorts zur Folge hätte. Ökonom*innen kritisierten bereits im Wahlkampf, dass Wachstum nicht per Knopfdruck generiert werden kann und, wie wir aktuell gerade schmerzhaft erleben, stark von der internationalen Grosswetterlage abhängt. Und selbst wenn die Wirtschaft im prognostizierten Ausmass wachsen würde, so reichte das Geld nie und nimmer für die anstehenden Investitionen und die Ausgaben für den Verteidigungshaushalt. Dieses offensichtliche schwarze CDU-Loch im Finanzhaushalt hielt einen Friedrich Merz aber nicht davon ab, an seinen Versprechen festzuhalten, die ihm nun empfindlich auf die Füsse fallen. Sein Problem in der aktuellen Situation ist jedoch nicht die SPD, wie man annehmen könnte, sondern die Realität. Doch soll es hier nicht um ein Friedrich Merz-Bashing gehen, im Gegenteil.

Tatsächlich kam alles anders als gewünscht. Die erhofften 30% verfehlte die CDU bei der Wahl weit und stattdessen legte die AFD und, für manche überraschend, die Linke stark zu. Als Koalitionspartner blieb Friedrich Merz somit nur die SPD, die mit ihren 16% zwar ein historisch schwaches, aber doch das zweitstärkste Ergebnis der demokratischen Parteien erzielt hatte. Zweitstärkste Partei war die AFD, mit der eine Regierung kategorisch ausgeschlossen wurde; zumindest ein Wahlversprechen, das Merz konsequent hält. Der Koalitionsvertrag, der die politische Stossrichtung, die Ziele und die Massnahmen der neuen Regierung festhält, konnte also nicht aus einer Position der Stärke heraus verhandelt werden, dafür war das Wahlergebnis zu schwach. Ausserdem schlugen die Ereignisse aus den USA in Europa ein wie Meteoriten und spätestens nach der skandalösen Rede von JD Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz und der Blossstellung und Herabwürdigung von Präsident Selenskyj im Weissen Haus wurde auch Merz als Transatlantiker klar, dass Europa sich nicht mehr auf die USA verlassen kann und Deutschland verteidigungsfähig werden muss – und zwar noch bevor die von ihm anzukurbelnde Wirtschaft wächst.

Vermutlich kam ihm diese gefühlt 20. Zeitenwende ganz gelegen, so bot sie ihm doch das Argument, gemeinsam mit Lars Klingbeil von der SPD noch mit dem alten Bundestag ein 500 Milliarden Euro schweres Sondervermögen für Infrastrukturausgaben zu beschliessen. Ausserdem verabschiedeten die Abgeordneten eine Grundgesetzänderung, nach der Ausgaben für Verteidigung und Sicherheit ab einer bestimmten Höhe von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Nach seinen Wahlversprechen des konsequenten Sparkurses beim Bürgergeld und dem “reinen Tisch” im Finanzhaushalt ein ordentlicher Stunt, der ihm auch von vielen seiner eigenen Partei verübelt wurde. Hat er seine Wahlversprechen gebrochen?

Auf jeden Fall. Zwar begründet er die Lockerung der Schuldenbremse mit der sich verändernden geopolitischen Lage, doch das kann man höchstens für die Verteidigungsausgaben gelten lassen. Trump ist an vielem Schuld, an der maroden Infrastruktur Deutschlands jedoch nicht. Vermutlich hat auch Merz gemerkt, dass diese Milliardeninvestitionen nur ausserhalb des ordentlichen Bundeshaushalts getätigt werden können und war ganz froh, diese Ausgaben auch als Zugeständnisse an den Koalitionspartner der SPD zu framen.

Während es also in der CDU brodelte und in der SPD knirschte, mussten die beiden Koalitionspartner möglichst schnell einen Koalitionsvertrag ausarbeiten, nachdem sie ihren Wählenden jeweils viel Blaues vom Himmel versprochen hatten. Der Vertrag liest sich denn auch wie ein wandelnder Kompromiss und in seiner Umsetzung sehr vage. Zwar heisst er vielversprechend “Verantwortung für Deutschland”, doch bleibt es vielerorts bei markigen Worten wie: “Innovationsoffensive”, “Arbeits- und Fachkräftesicherung”, «bürgerfreundlicher Sozialstaat” oder “Sicheres Zusammenleben”. Bei der Lektüre des 144 Seiten starken Dokuments hätte ich vor allem, um Merz hier zu zitieren, gern mehr Netto vom Brutto. Klar wird, in den meisten Positionen könnten sich die beiden Parteien uneiniger nicht sein, eine gewisse Einigkeit ist einzig in der Aussenpolitik und der Stärkung Europas herauszulesen, ansonsten ist der Vertrag ein dokumentierter Versuch, zuvor sehr gegensätzlich postulierte Wahlversprechen unter einen möglichst grossen Hut zu bringen.

Das Ringen dringt in jedem Satz durch; so konnte die SPD einen Mindestlohn von 15 Euro durchsetzen, dafür wurden die Bedingungen fürs Bürgergeld stark verschärft. Zwar soll an den Grenzen zurückgewiesen werden – Handschrift der CDU – allerdings in Abstimmung mit den europäischen Ländern – Absender Herr Klingbeil. Der Vertrag ist somit alles, aber keinesfalls die vollmundig angekündigte Politikwende, was natürlich sogleich kritisiert und beanstandet wurde.

Die Linke monierte die Bürgergeldverschärfungen, während sich die AFD feixend über die nicht stattfindende Migrationswende lustig machte – trotz erheblicher Verschärfungen im Asylrecht. Auch in den Umfragen legte die AFD markant zu und befindet sich aktuell nur noch einen Prozentpunkt hinter der CDU, während diese mit harscher Kritik aus dem eigenen Lager kämpft und auch Klingbeil zittern muss, um dem Vertrag in seiner Mitgliederbasis zur Mehrheitsfähigkeit zu verhelfen.

Kurz: In der Haut der beiden Koalitionspartner möchte ich derzeit nicht stecken und wenngleich mich die Lektüre des Vertrags eher konsterniert und ernüchtert zurück liess und so gar nichts von der damaligen Aufbruchstimmung der Ampelregierung mit euphorischen Selfies zu spüren ist, so ziehe ich doch meinen Hut. Kritik am Koalitionsvertrag hätte ich viel, gerade die Migrationspolitik mit dem verhinderten Familiennachzug und der Abschaffung der schnelleren Einbürgerung, aber auch die generelle finanzielle Umverteilung von unten nach oben durch Steuererleichterungen und Verschärfungen beim Bürgergeld lassen mich nachdenklich und leicht traurig zurück.

Was mir dennoch Respekt abringt, ist die Tatsache, dass beide Partner empfindlich von ihren Positionen abweichen mussten und die harte Kritik der Basis der jeweiligen Jungparteien (die den Vertrag jeweils ablehnen) in Kauf nahmen, um die Alternative zu vermeiden: nämlich Neuwahlen. Denn in Anbetracht der aktuellen Umfrageergebnisse dürfte Deutschland dann sein allzu blaues Alternatives Wunder erleben, und das kann nicht im Interesse aller demokratischen Parteien sein. In diesem Sinne stimmt der Titel des Vertrags vielleicht doch: Verantwortung für Deutschland. Was auch immer resultiert, es gilt nun, gute Regierungsarbeit der demokratischen Parteien zu leisten und dessen scheinen sich SDP und CDU bewusst zu sein.


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