Rohöl als Konjunkturfaktor
Vaduz – Die erneuten politischen Spannungen im Nahen Osten haben zu einem deutlichen Preisanstieg des Rohölpreises geführt. Fundamentale Faktoren sprechen gegen einen weiteren Preisanstieg. Anders als bei der Ölkrise 1973 wird sich das aktuelle Preisniveau kaum negativ auf Konjunktur und Inflation auswirken. Kommt es jedoch zu einer Eskalation, droht ein Rückschlag für die Weltwirtschaft. Dieser Meinung sind Thomas Gitzel, Senior Economist, und Rolf Kuster, Investment Strategist, von der VP Bank.
Der Streit um das umstrittene iranische Atomprogramm hat sich in den letzen Wochen weiter zugespitzt. Die Wirksamkeit der bereits beschlossenen US- und EU-Sanktionen wird besonders von Israel hinterfragt. Die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konfliktes hat in den letzen Wochen deutlich zugenommen. Der von Economist Intelligence Unit (EIU) berechnete Indikator für politische Risiken ist sowohl für den Iran als auch für Israel teils sprunghaft angestiegen. Dass der Rohölpreis als Indikator für geopolitische Spannungen im Nahen Osten gilt, ist kein Geheimnis. Die Angst vor einer weiteren Destabilisierung der Region und einer möglichen Versorgungsknappheit hat speziell in Europa die Rohölpreise abrupt ansteigen lassen. Der Risikoaufschlag für die politischen Gefahren liegt bei rund 10 bis 20 Dollar pro Fass Rohöl der Marke Brent.
Iranische Drohgebärden hinterfragen
Europa bezieht derzeit noch rund 4.3 % seiner Rohölimporte aus dem Iran und wäre von einer Eskalation wohl weitaus stärker betroffen als die Vereinigten Staaten. Das viel grössere Risiko ist die Drohung Teherans, allenfalls auch die wichtige Seestrasse von Hormus zu sperren. Jeden Tag werden rund 17 % der weltweiten Rohölnachfrage durch die teils nur 55 Kilometer breite Meerenge geschifft. Dies führte auch bei der amerikanischen Rohölsorte WTI zu einem Preisanstieg. Wie ernst es Teheran mit seinen Drohgebärden jedoch tatsächlich meint, darf kritisch hinterfragt werden. Sowohl die militärischen als auch die wirtschaftlichen Risiken wären enorm. Iran liefert den Grossteil seines Rohöls in den asiatischen Markt. Insgesamt sind rund 85 % des durch die Strasse von Hormus transportierten Erdöls für Asien bestimmt. Somit wäre der asiatische Markt besonders von einer Schliessung betroffen.
Preisanstieg fundamental kaum gerechtfertigt
Trotz den erfreulichen Konjunkturmeldungen der letzen Wochen, lässt sich der aktuelle Preisanstieg fundamental kaum rechtfertigen. Die Rohölnach-frage bleibt weiterhin verhältnismässig schwach. Alleine in den USA, dem grössten Rohölverbraucher der Welt, notiert die Nachfrage rund 10 % unterhalb des Niveaus von 2006. Bisweilen konnte die schwache Nachfrage aus den OECD Ländern zwar durch einen starken Rohölkonsum der Schwellenländer kompensiert werden, die Abschwächung des chinesischen Wachstums könnte diesem Trend aber ein Ende setzen. Auch die Internationale Energieagentur (IEA) hat die Ölnachfrageschätzung jüngst im sechsten Monat in Folge nach unter korrigiert. Sie rechnet mittlerweile für 2012 mit einer Ölnachfrage, welche leicht unter dem Vorjahreswert liegt.
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so entspannt, präsentiert sich die Angebotssituation. Die freien Förderkapazitäten der erdölexportierenden Länder (OPEC) ohne Libyen und Iran, welche für einen allfälligen Versorgungsengpass zur Verfügung stehen, sind seit März 2009 abnehmend und belaufen sich mittlerweile lediglich noch auf 3.2 Mio. Fass pro Tag. Ein starker Angebotsnachschub kommt jedoch aus Libyen. Die libysche Rohölproduktion konnte seit September um monatlich rund 200’000 Fass erhöht werden und könnte bereits in zwei bis drei Monaten das Vorkriegsniveau erreichen.
Weitere Entwicklung des Rohölpreises
Der derzeitige Anstieg des Rohölpreises ist hauptsächlich auf politische Faktoren zurückzuführen. Besonders an den Terminbörsen wird heftig auf kurzfristig steigende Ölpreise spekuliert. Die Anzahl an spekulativen Terminkontrakten an der US Terminbörse NYMEX haben mittlerweile das Niveau des arabischen Frühlings erreicht und liegen rund fünf Mal höher als der zehnjährige Schnitt. Fundamental wirken fallende Lagerbestände, eine steigende Nachfrage aus den Emerging Markets und abnehmende Reservekapazitäten stützend.
Dennoch, die abflachende globale Nachfrage und der starke Anstieg der libyschen Förderung rechtfertigen den jüngsten sprunghaften Anstieg des Rohölpreises nicht. Nehmen die politischen Spannungen weiter zu, ist kurzfristig eine weitere Abkopplung von den Fundamentaldaten und damit ein steigender Rohölpreis durchaus möglich. Mittelfristig ist jedoch ein Rückgang der Rohölpreisnotierungen zu erwarten. Besonders der Aufschlag von europäischem Brent gegenüber amerikanischem WTI sollte sich wieder abbauen.
Einfluss auf Konjunktur…
Die gestiegenen Preise des „schwarzen Goldes“ erhöhen derweil unzweifelhaft die konjunkturellen Risiken. Sollte der Preis für ein Fass Rohöl der Sorte WTI im weiteren Verlauf des Jahres auf dem bereits erreichten Niveau verharren, werden die wirtschaftlichen Auswirkungen allerdings überschaubar bleiben. Die Gründe hierfür sind:
- Aufgrund energieschonender Verfahren ist ein linearer Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Ölpreis nicht mehr ableitbar. Neuere, nicht-lineare Modelle zeigen, dass die in den 70er und 80er Jahren empirisch gemessenen Beziehungen nur noch in abgeschwächter Form gelten.
- Der derzeitige Preisanstieg ist nicht mit einem Ölschock gleichzusetzen. Gegenüber dem Vorjahr stiegen die Notierungen beim Brent Öl zuletzt um 12 %.
- Ölfördernde Länder zählen zu den Gewinnern und stimulieren über zusätzliche Einnahmen die globale Nachfrage.
- Trotz des jüngsten Anstieges notiert der inflationsbereinigte Ölpreis unter dem Niveau der 80er Jahre. Das reale Welt-BIP ist verglichen mit den 80er Jahren jedoch mehr als doppelt so hoch.
Trotz neuer Techniken gehören die USA unter den Industrienationen immer noch zu den energieintensivsten Ländern. Steigende Ölpreise schüren deshalb besonders jenseits des Atlantiks Konjunkturängste. Kommt es zu keinem weiteren deutlichen Ölpreisanstieg, dürfte der US-amerikanische Aufschwung aber nicht aus dem Tritt kommen. Der Kaufkraftverlust durch den jüngsten Ölpreisanstieg kann derzeit mit rund USD 13 Mrd. veranschlagt werden. Dem gegenüber steht ein Anstieg des Verfügbaren Einkommens von knapp USD 377 Mrd. im Jahr 2011. Die kontraktive Wirkung des Rohölpreisanstieges sollte kaum ins Gewicht fallen.
…und Inflation
Hinsichtlich etwaiger Inflationsrisiken gilt: Der Teuerungseffekt des Ölpreisanstieges wird sich in den kommenden Wochen bemerkbar machen, doch die Preise für landwirtschaftliche Produkte und Industriemetalle liegen stellenweise deutlich unter den Notierungen des Vorjahres und bilden gesamtwirtschaftlich ein nicht zu unterschätzendes Gegengewicht.
Fazit
Das aktuelle Ölpreisniveau ist aus fundamentaler Sicht überbewertet. Der Risikoaufschlag für die politischen Gefahren liegt bei rund 10 bis 20 Dollar pro Fass Rohöl der Marke Brent. Die konjunkturellen Auswirkungen des bislang erfolgten Rohölpreisanstiegs dürften sich in Grenzen halten. Aufgrund energieschonender Techniken reagiert die Weltwirtschaft mittlerweile auf höhere WTI- oder Brent-Notierungen weit weniger sensibel als es in den letzten Jahrzehnten noch der Fall war. In den USA kompensiert die Zunahme der verfügbaren Einkommen aufgrund eines höheren Beschäftigungsniveaus die dämpfenden Öleffekte. Revisionsbedarf für unseren Konjunkturausblick 2012 sehen wir deshalb nicht.
Sollte die Situation im Nahen Osten weiter eskalieren und ein Ölpreisschock resultieren, wäre die Ausgangssituation allerdings eine andere. Die sich aus einem steigenden Ölpreis ergebende Wachstumsdämpfung würde dann die Weltwirtschaft bremsen. Damit wäre auch die nachhaltige Sanierung der Staatsfinanzen in der Peripherie des Euro-Raums gefährdet. Besonders betroffen wären ausserdem ölintensive Schwellenländer. (VP Bank/mc)