von Patrick Gunti
Frau Morel, der FAO-Gipfel zur Lebensmittelkrise hat in Rom zwar finanzielle Soforthilfe beschlossen, ein Aktionsplan, wie der Hunger langfristig und strukturell bekämpft werden könnte, kam aber erneut nicht zu Stande. Welche generelle Bilanz ziehen Sie vom Gipfeltreffen?
Wir ziehen eine negative Bilanz. Die Chance wurde verpasst, endlich einen politischen Paradigmenwechsel zu vollziehen, der dem Recht auf Nahrung oberste Priorität einräumt. Alarmiert sind wir über die ersten Vorschläge der neuen UN-Arbeitsgruppe zur Hungerkrise, die Generalsekretär Ban Ki-moon auf dem Gipfel der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Er fordert die Öffnung der Märkte des Südens, die Subventionierung von Importen durch Entwicklungsgelder, die Privatisierung von Getreidespeichern und eine neue «Grüne Revolution». Grosse Teile dieses Aktionsplans werden den Hunger eher verschärfen als lindern. Für die nachhaltige Lösung des Hungerproblems müssten vielmehr die Kleinbauern des Südens unterstützt und eine ihren Bedürfnissen entsprechende Landwirtschafts- und Handelspolitik formuliert werden.
Wer respektive welche Interessen sind aus Ihrer Sicht hauptsächlich dafür verantwortlich, dass ein entschiedenes und langfristiges Vorgehen gegen den Hunger auf der Welt nicht zu Stande kommt?
Regierungen der Industrieländer versuchen, die aktuelle Krise auszunutzen, um noch mehr Handelsliberalisierungen durchzusetzen und ein von Agrarkonzernen dominiertes Landwirtschaftsmodell zu stärken. Die USA und die EU-Länder wollen sich Absatzmärkte sichern und halten an den Exportsubventionen fest, welche die Produktion der Entwicklungsländer konkurrenzunfähig machen.
Die Agrarindustrie ist die Gewinnerin der Nahrungsmittelkrise: Die Tatsache, dass Agrarkonzerne in den letzten drei Monaten Rekordgewinne gemacht haben, während die Anzahl der Hungernden dramatisch steigt, blieb an der FAO-Konferenz indessen unerwähnt. Monsantos Gewinne stiegen um 86 Prozent, die des weltgrössten Getreidekonzerns Cargill um 103 Prozent.
Hunger ist kein neues Problem, die Situation hat sich aber enorm verschärft. Welches sind die Hauptgründe?
Einer der Hauptgründe, dass heute 860 Millionen Menschen an Hunger leiden, ist die verfehlte globale Landwirtschafts- und Handelspolitik. Die Agrarpolitik behindert die bäuerliche Produktion, die internationalen Finanzinstitute und die Akteure der Entwicklungszusammenarbeit haben die Landwirtschaft über Jahrzehnte vernachlässigt.
Die Welt erlebt gegenwärtig eine neue Ära des Hungers. Die Preisexplosion bei Nahrungsmitteln hat ein dramatisches Ausmass erreicht, laut Weltbank sind bereits 100 Millionen Menschen zusätzlich in die Armut getrieben worden. Familien, die drei Viertel ihres Einkommens für Nahrungsmittel aufwenden, können sich höhere Preise schlicht nicht leisten. Und so leben heute schon zwei Milliarden Menschen in einem täglichen Kampf ums Überleben. Für die Explosion der Preise gibt es mehrere Gründe: Schlechte Ernten und Klimawandel, hohe Energiepreise, Spekulationen auf den Rohstoffmärkten, der wachsende Fleischkonsum, verfehlte Landwirtschafts- und Handelspolitik sowie die politisch gelenkte, boomende Nachfrage nach Agrotreibstoffen sind wohl die wichtigen.
«Die Welt erlebt gegenwärtig eine neue Ära des Hungers.» (Caroline Morel, Geschäftsleiterin SWISSAID)
Bio-Treibstoffe sind ein kontroverses Thema. Wie stark ist die Biotreibstoff-Produktion für die Verschärfung der Hungerkrise und die Erhöhung der Lebensmittelpreise verantwortlich?
Wir benutzen jeweils den Begriff Agrotreibstoffe, weil die Produkte nichts mit «Bio» gemein haben: Sie sind weder biologisch hergestellt noch bieten sie eine nachhaltige Antwort auf den Klimawandel. Die Produktion der Agrotreibstoffe konkurrenziert direkt die Nahrungsmittelproduktion, und es stellt sich die Frage, ob kostbares Ackerland für die Produktion von Treibstoff genutzt werden darf. Für eine 95-Liter-Tankfüllung eines Autos mit reinem Ethanol sind ca. 200 Kilogramm Mais nötig – genug, um eine Person ein Jahr lang zu ernähren.
Dieser simple Vergleich wirft nicht nur ethische Zweifel auf. Er zeigt, dass Agrotreibstoffe das Recht auf Nahrung gefährden. Die Expertinnen und Experten sind sich uneinig darüber, wie stark die Agrotreibstoffe für die Erhöhung der Lebensmittelpreise verantwortlich sind. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass die Nachfrage nach Agrotreibstoffen 20-30 Prozent des Preisanstiegs erklärt.
«Die Produktion der Agrotreibstoffe konkurrenziert direkt die Nahrungsmittelproduktion, und es stellt sich die Frage, ob kostbares Ackerland für die Produktion von Treibstoff genutzt werden darf.»
Die Auswirkungen von Klimawandel und Agrotreibstoffen auf die Welternährung hätte ein grosses Thema der Konferenz in Rom sein sollen, wurde aber letztlich kaum thematisiert. Welche politischen Wandlungen sind aus Ihrer Sicht nötig, damit das Problem richtig und resolut angegangen werden kann?
SWISSAID unterstützt die Forderung nach einem Moratorium für die industrielle Produktion der Agrotreibstoffe. Wir lehnen jegliche direkte oder indirekte Subventionierung sowie alle politischen Massnahmen ab, die zu einer Nachfragesteigerung von Agrotreibstoffen führen. Wir fordern die Politik auf, wirklich nachhaltige Ansätze zur Bekämpfung der Klimaerwärmung zu finden. Dazu gehört die konsequente Förderung der biologischen Landwirtschaft, die mit minimalem Einsatz fossiler Rohstoffe gesunde Produkte für lokale und regionale Märkte produziert. Insgesamt muss weniger Energie verbraucht und weitaus effizienter mit ihr umgegangen werden.
Die Schweiz hat den Anbau von Agro-Kraftstoffen reguliert und setzt sich auch für internationale Standards ein. Haben Sie Hoffnung, dass diese internationalen Standards zu Stande kommen und auch eingehalten werden?
Wir stehen der geplanten Zertifizierung «nachhaltig produzierter» Agrotreibstoffe sehr kritisch gegenüber. Die Zertifizierung im grossen Stil für die Massenproduktion ist fast unmöglich, es existieren weder gültige Kriterien – vor allem im sozialen Bereich – noch gibt es Ideen, wie deren Umsetzung wirklich garantiert werden kann. Hinzu kommt: Die Energieeffizienz der meisten Agrotreibstoff-Produkte ist negativ. Für die lokale Energieversorgung bieten Biogasanlagen oder Treibstoffe aus Altöl oder Rüstabfällen aber sicher interessante Möglichkeiten.
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Mittlerweile ist ein eigentlicher Wettbewerb zwischen dem Anbau von Agrotreibstoffen und Nahrungsmitteln entstanden. Wird der Grundsatz, dass jeder Mensch ein Recht auf Nahrung hat, einmal mehr missachtet und der der Energiegewinnung, resp. dem daraus resultierenden Profit geopfert?
Der Grundsatz, dass jeder Mensch ein Recht auf Nahrung hat, wird tatsächlich missachtet. Die Produktion von Agrotreibstoffen verschärft viele der bereits bestehenden Probleme kleinbäuerlicher und indigener Gemeinschaften – etwa Konflikte um Land und Wasser – sowie den Verlust der biologischen Vielfalt. Von der Produktion der Agrotreibstoffe profitieren ein paar wenige, und die Probleme der Mehrheit der Bevölkerung im Süden verschärfen sich.
Kraftstoffhersteller verweisen einerseits auf den umweltschonenden Effekt von Agrotreibstoffen, andererseits auf die Entwicklung von Agrotreibstoffen der 2. Generation, die nicht aus Mais oder Getreide, sondern aus Pflanzenresten, Abfällen oder Holz hergestellt werden. Welche Erwartungen verbinden Sie mit diesen Biotreibstoffen?
Es werden derzeit viele Erwartungen an die so genannte zweite Generation geknüpft. Bisher gibt es aber kaum mehr als Versprechungen, die Marktreife dieser Technologie dürfte noch acht bis zehn Jahre entfernt sein. Die zweite Generation beruht jedoch stark auf gentechnisch veränderten Pflanzen – allen voran Bäumen – und patentierten Enzymen. Die Risiken dieser Technologie sind noch nicht abzuschätzen, sicher ist jedoch, dass es sich nicht um Technologien für eine kleinbäuerliche Produktion handelt. Gentechnologisch veränderte Hölzer für die Energieherstellung zu produzieren, ist keine Lösung – und in diese Richtung drängt die Agrarindustrie.
«Agrotreibstoffe sind ein Irrweg, sie lösen keines der aktuellen Probleme, im Gegenteil, sie verschärfen diese gar.» (Caroline Morel, Geschäftsleiterin SWISSAID)
Die Entwicklung dieser Kraftstoffe der 2. Generation dauert sehr lange. Wird der Durchbruch erst gelingen, wenn genügend wirtschaftliche Anreize vorhanden sind?
Die Wirtschaft sollte merken, dass die Produktion der Agrotreibstoffe niemals die schwindenden Reserven des Erdöls kompensieren kann und keine langfristige Lösung darstellt. Es geht lediglich darum, dass derzeit vorherrschende Modell durch die Beimischung von Agrotreibstoffen etwas zu strecken. Eine innovative und vorausschauende Energiepolitik setzt stattdessen auf neue Energiemodelle, die auf erneuerbaren Energien für die «Elektrifizierung der Mobilität» basieren.
Nicht nur Ökonomen konstatieren die Rekordgewinne der Nahrungsmittelhersteller auf der einen und den wachsenden Hunger auf der anderen Seite mit der Aussage, dass die Zeiten «billiger Lebensmittel» in Anbetracht von Klimawandel, Energiepreisen und Bevölkerungswachstum vorbei seien. Biotreibstoffe seien da nur ein «Nebenkriegsschauplatz». Was meinen Sie dazu?
Ich stimme mit dieser Analyse überein. Die derzeitige Auseinandersetzung über Agrotreibstoffe verhindert, dass über echte Lösungen im Bereich Klimawandel, Energieknappheit und Ernährungssicherheit gesprochen wird. Agrotreibstoffe sind ein Irrweg, sie lösen keines der aktuellen Probleme, im Gegenteil, sie verschärfen diese gar. Wir müssen daher sofort die Notbremse ziehen, die industrielle Produktion von Agrotreibstoffen einstellen und unserer Aufmerksamkeit ebenso wie Forschungsgelder in wirklich nachhaltige Lösungen fliessen lassen.
So wie in der Energiedebatte die Kernkraft ihr Revival schafft, sind im Zusammenhang mit der Hungerkrise genveränderte Lebensmittel wieder ein grösseres Thema. Wie stehen Sie zu entsprechenden Lösungen?
Wir erleben derzeit tatsächlich die Wiederholung altbekannter Argumente der Gentech-Befürworter, ohne Gentechnologie in der Landwirtschaft seien weder der weltweite Bedarf an Nahrungsmitteln noch der an Energie zu decken. Doch die jetzigen Erfahrungen mit der Gentechnologie beispielsweise in Indien sind verheerend. Die indischen Baumwollbauern haben sich mit dem Kauf von teurem Gentech-Saatgut verschuldet und die versprochenen höheren Erträge blieben aus. Ganz aktuell fördert die Initiative der Bill Gates- und der Rockefeller-Stiftung, die gemeinsam mit der Weltbank eine «Neue Grüne Revolution für Afrika» lancieren, eine Landwirtschaft, die auf High-Tech-Saatgut und teurem Kunstdünger und Pestiziden beruht. Die Initiative versäumt es jedoch, die Lehren aus der «ersten Grünen Revolution» in Asien und Lateinamerika zu ziehen: Dort ging die Steigerung der Ernteerträge auf Kosten der Umwelt, des Wassers, der Böden und der Biodiversität und nicht zuletzt auch auf Kosten Hunderttausender Kleinbauernfamilien, die ihre Lebensgrundlage verloren haben.
Frau Morel, herzlichen Dank für das Interview.
Zur Organisation:
SWISSAID ist eines der führenden Hilfswerke der Schweiz und besteht seit 1948. Es ist in neun Ländern in der Entwicklungszusammenarbeit tätig, versucht in der Schweiz auf entwicklungspolitische Fragen Einfluss zu nehmen und informiert die Bevölkerung über die Ursachen von Armut und Unterentwicklung. Weltweit beschäftigen das Hilfswerk derzeit 84 Mitarbeitende, davon 29 in der Schweiz.
Zur Person:
Caroline Morel ist seit 2002 Geschäftsleiterin von SWISSAID und leitet gleichzeitig das Ressort Medien + Entwicklungspolitik. Morel wurde 1969 in Südafrika geboren, wuchs in Kilchberg auf und studierte in Zürich Ethnologie. Nach einem Abstecher in die Markt- und Sozialforschung absolvierte sie das ETH-Nachdiplomstudium für Entwicklungsländer NADEL und arbeitete in Nicaragua als Gender-Verantwortliche in einem Wasser- und Siedlungshygiene-Projekt der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza).
Caroline Morel ist Mitglied der Beratenden Kommission für internationale Entwicklungszusammenarbeit.