Claude Martin, CEO WWF: «Wir durchleben eine umweltpolitische Eiszeit»
An der Spitze des WWF International steht seit mehr als zehn Jahren der Schweizer Claude Martin. Im Interview spricht er über die neue Rolle der Umweltorganisationen, die Chancen des Kyoto-Protokolls und die Auswirkungen der Bush-Administration.
Von Daniel Huber, Chefredaktor emagazine
Claude Martin, CEO WWF International
Daniel Huber: Als Chef von WWF International sind Sie wohl der höchstrangige Umweltschützer der Schweiz. Welche Verbrechen an der Umwelt haben Sie heute während Ihrer Zugfahrt von Gland nach Bern wahrgenommen?
Claude Martin: Ich muss zugeben, dass ich vor allem Zeitung gelesen habe und wenig von der Umwelt wahrgenommen habe.
«Ich finde es erschreckend, wie insbesondere mit unserer Berglandwirtschaft umgegangen wird. Die ganze Multifunktionalität, die über Jahrhunderte herangewachsen ist, zählt nichts mehr.» Claude Martin, CEO WWF International
Dann etwas allgemeiner formuliert: Was macht ihnen in der Schweiz am meisten Sorgen?
Wirklich Sorgen macht mir der seit Jahrzehnten ungebremst voranschreitende Landschaftsverlust. Ich finde es erschreckend, wie insbesondere mit unserer Berglandwirtschaft umgegangen wird. Die ganze Multifunktionalität, die über Jahrhunderte herangewachsen ist, zählt nichts mehr. Es interessiert nur noch, ob sich die Schweiz WTO-Regeln unterwerfen soll oder nicht. Ich kenne Täler im Wallis, in denen die ganze Alpkultur mit ihren Maiensässen in den nächsten zwanzig Jahren für immer verloren gehen wird.
Wie sorgsam gehen Sie persönlich mit der Umwelt um?
Jede menschliche Aktivität hat letztendlich einen Einfluss auf die Umwelt. In meiner Arbeit reise ich häufig im Flugzeug in der Welt herum. Damit komme ich wahrscheinlich auf eine schlechtere CO2-Ökobilanz als die meisten Konzernchefs. Doch was soll ich tun? Mit dem Ruderboot nach Südamerika reisen, um mit der brasilianischen Regierung den Schutz des Amazonasbeckens zu verhandeln? In solchen Widersprüchen sind wir alle gefangen. Doch jeder kann in seinem persönlichen Umfeld sein Bestmögliches Tun, um nicht unnötig Ressourcen zu verschwenden. Insofern gehöre ich sicher zu den Pragmatikern und nicht zu den Fundis.
Wir werden im Moment tagtäglich von Nachrichten über brutale Vergehen gegen die Menschlichkeit überschwemmt. Rückt da die Sorge um die Natur nicht zwangsläufig in den Hintergrund?
Ich arbeite nun schon über 30 Jahre für den WWF. In dieser Zeit gab es immer wieder Phasen, in denen die Sorge um die Umwelt sehr gross und präsent war, um in einer nächsten Phase wieder in den Hintergrund zu rücken. Dabei haben Umweltkatastrophen wie Tschernobyl oder Schweizerhalle sicher auch eine prägende Rolle gespielt. Doch wenn wie im Moment Sicherheitsfragen und Arbeitslosigkeit stark unser Leben prägen, dann rückt die Umwelt automatisch in den Hintergrund.
Hat sich neben der Gewichtung in den vergangenen Jahren nicht auch das Verständnis für Umwelt an sich geändert?
Die Menschen wissen heute viel mehr über die verschiedenen Umweltprobleme als früher und betrachten die einzelnen Bedrohungen differenzierter. Werden die Leute zum Beispiel gefragt: Sind Ihnen Umweltfragen ein Anliegen? Dann sagen die Leute: ja, ja, schon. Und die Antwort erscheint auf der Häufigkeitsrangliste an dritter oder vierter Stelle. Fragt man die gleichen Leute: Wie schwerwiegend stufen Sie die Bedrohung einer Klimakatastrophe ein, dann wird dieses Anliegen plötzlich viel höher eingestuft. Daneben ist der Umweltschutz auch vielerorts institutionalisiert worden. Sei dies durch die öffentliche Hand oder Unternehmungen. Insofern ist das Thema keineswegs unwichtiger geworden. Gleichwohl durchleben wir heute nicht zuletzt dank der Administration Bush eine umweltpolitische Eiszeit. Das ist leider so.
George Bush gibt offen zu, dass sich die USA wirtschaftlich keine Ratifizierung des Kyoto Protokolls leisten könne.
Ich kann es noch immer nicht fassen, dass ein Präsident der Vereinigten Staaten öffentlich ein derart stupides Argument vertreten kann. Letztendlich sagt er aber nur, was ihm seine Berater zustecken. Und viele von diesen vertreten ganz unverhohlen die Interessen der Öl- und Kohleindustrie. Meiner Meinung nach ist das eine extrem kurzsichtige Sichtweise, selbst aus einer rein inneramerikanischen Versorgungspolitik heraus.
Und wo sind bei dieser Diskussion die wissenschaftlichen Berater des Weissen Hauses?
Die Bush-Administration zieht sie zwar zu Rate, hört aber nicht auf sie. Im Zusammenhang mit dem Kyoto-Protokoll gab Bush seiner eigenen Wissenschaftskommission den Auftrag, die Bedrohung einer Klimaveränderung zu analysieren. Die Kommission kam gar noch zu krasseren Ergebnissen als das Intergovernmental Panel on Climate Change IPCC, das Wissenschaftergremium der Klimakonvention: nämlich dass durch diese Bedrohung längerfristig die ganze amerikanische Ökonomie in Frage gestellt werden könnte. Doch die Bush-Administration folgt nicht wissenschaftlich gestützten Erkenntnissen, sondern ihren eigenen Paradigmen. Das ist das Problem.
Hat das Kyoto-Protokoll noch eine Chance, ratifiziert zu werden?
Ein wichtiger Schritt war sicher die kürzlich veröffentlichte Verlautbarung Putins, dass Russland den Ratifizierungsprozess beschleunigen werde. Falls Russland tatsächlich mitmacht, wäre das ein grosser Fortschritt. Wir brauchen eine international in Kraft tretende Konvention, um einen Rahmen zu haben, auch wenn der an sich noch zu wenig weitreichend ist.
Besteht nicht die Gefahr, dass Unternehmen dann einfach ihre Fabrikationen an laschere Standorte verschieben?
Unter dem Clean Development Mechanism des Kyoto Ptotokolls gibt es explizit die Möglichkeit des CO2-Handels. Damit können Industrieländer CO2-Kontingente von anderen, weniger stark belastenden Ländern kaufen. Das war eine Konzession, die wir eingehen mussten. Somit könnte die Schweiz also einen CO2-Rappen einführen und entsprechende Kredite einkaufen. Ob dies aber ausreichen wird, steht auf einem anderen Blatt geschrieben.
In der Schweiz haben Sie persönlich in den Achtzigerjahrenmit der Lancierung der Rothenthurm-Initiative zum Schutz der Hochmoore umweltpolitisch Furore gemacht. Hätte eine solche Initiative auch heute noch eine Chance vor dem Volk?
Das kommt ganz darauf an. Eine Initiative muss immer in eine öffentliche Diskussion eingebettet sein. Obwohl es bei der Rothenthurm-Initiative in erster Linie um den Schutz der Hochmoore ging, war es letztlich eine Auseinandersetzung mit dem damaligen Eidgenössischen Militärdepartement EMD, das über alle Köpfe hinweg seine Waffenplätze durchboxen wollte. Klar war das Hochmoor Rothenthurm als schützenswerte Landschaft wichtig, doch entscheidend war das unglaublich überhebliche Vorgehen des EMD. Das hat die Leute mobilisiert. Geholfen hat auch, dass es gegen kleine, lokale Bauern ging. Das ist in der Schweiz immer ein Thema, das die Gemüter erhitzt. Initiativen für umweltpolitische Anliegen haben auch heute noch eine Chance, wenn sie in ein politisch polarisiertes Umfeld eingebettet sind und wahre Bedürfnisse ansprechen.
Statt auf dem politischen Parkett sind Sie in den vergangenen Jahren als WWF-Chef vor allem auf den Teppichetagen von Grosskonzernen anzutreffen. Stossen diese Verhandlungen mit den vermeintlichen Erzfeinden von einst auf keinen Widerstand innerhalb des WWF?
Das war vor zehn Jahren tatsächlich ein grosses Problem, das an der Basis zu heftigen Grundsatzdiskussionen führte. Doch Tatsache ist: Von den 100 grössten Ökonomien dieser Welt sind 57 Privatunternehmen und nur 43 Staaten. Kommt dazu, dass die Direktinvestitionen von Privatunternehmen inEntwicklungsländer in der Regel um ein Vielfaches grösser sind als die Entwicklungshilfegelder. Entsprechend wäre es nicht glaubwürdig, die Augen vor dem Privatsektor zu verschliessen und lediglich über das Gleis von politischen Gesetzesvorstössen und verhältnismässig kleinen, punktuellen Projekten Umweltschutz zu machen. Vielmehr müssen wir versuchen, die grossen Gewichte zu verschieben.
«Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Schaden George Bush mit seiner ignoranten Haltung gegenüber dem Umweltschutz in der ganzen Welt anrichtet.»
Und gelingt Ihnen das?
Eine Erfolgsgeschichte ist unsere Partnerschaft mit Lafarge, dem grössten Zementhersteller und damit einem der grössten Energieverbraucher der Welt. Lafarge stösst doppelt so viel CO2 aus wie die ganze Schweiz. Was wir dort durch eine einzige Partnerschaft in Sachen CO2-Bekämpfung rein quantitativ erreichen konnten, gehtüber das hinaus, was wir mit der ganzen Schweiz je erzielen können. Zudem sagt Lafarge heute ganz klar, dass sie durch die Einführung der neuen Energie-Standards unter dem Strich Geld einsparen.
Organisationen wie der WWF geniessen in der Öffentlichkeit eine grosse Glaubwürdigkeit. Doch bei Kampagnen werden gewisse Fakten manchmal wissentlich weggelassen oder überspitzt plakativ und einseitig dargestellt. Wie ist Ihr Umgang mit der Wahrheit?
Wir versuchen eigentlich schon, immer bei der Wahrheit zu bleiben. Bei uns stellt sich eher die Frage, wie offen wir mit gewissen Informationen umgehen. Manchmal kommt es zu einer Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Umwelt-Organisationen. So haben wir schon verschiedentlich mit Greenpeace am gleichen Projekt gearbeitet. Sie haben vorne protestiert, wir hinter verschlossenen Türen die Verhandlungen geführt. Es gehört zu meiner Arbeit, dass ich bestimmte Informationen für mich behalte.
Können Sie bei der Art dieser Informationen etwas konkreter werden?
Ich könnte zum Beispiel erklären, wie es dazu kam, dass Putin nun die Ratifizierung des Kyoto-Protokolls vorantreiben will oder warum der frühere brasilianische Präsident Cardoso plötzlich zehn Prozent des brasilianischen Regenwaldes zum Naturschutzgebiet erklärt hat. Das wäre für den Augenblick zwar sehr medienwirksam für den WWF, aber für spätere Verhandlungen mit Staatsmännern kontraproduktiv.
Was wünschen Sie sich von einem globalen Finanzdienstleister wie der Credit Suisse?
Finanzdienstleister können etwa über die Wahl ihrer unterstützten Grossprojekte in Entwicklungsländern ihre Verantwortung gegenüber der Natur wahrnehmen. Das zahlt sich insofern aus, dass immer mehr Kunden auch nachhaltige Finanzprodukte wünschen.
Sie haben in ihrer Funktion als WWF-Chef einen Wunsch offen, der morgen umgesetzt wird. Was wäre das?
Dass wir in den USA möglichst bald einen neuen Präsidenten bekommen. Sie können sich nicht vorstellen, wie viel Schaden George Bush mit seiner ignoranten Haltung gegenüber dem Umweltschutz in der ganzen Welt anrichtet.
Moneycab Interviews Claude Martin
Der 59-jährige Claude Martin ist in Zürich aufgewachsen und hat an der Universität Zürich in Biologie promoviert.
Wegweisend für seinen späteren Werdegang beim WWF war im Rahmen seiner Dissertation über den Barasingha Hirsch 1971-73 eineFeldstudie in Zentralindien.
1975 bis 1978 leitete er für den WWF in Westafrika verschiedenen Regenwald-Nationalparks.
1980 wurde er zum Geschäftsleiter des WWF Schweiz ernannt. Nach zehn Jahren im Amt wechselte er zu WWF International in Gland (VD), wo er 1993 zum CEO ernannt wurde.
Claude Martin lebt in Arzier und hat vier erwachsene Kinder aus zwei Ehen.