Der Kanton Freiburg eignet sich besonders gut für ein solches Unterfangen. Diese Region blieb abseits der industriellen Revolution, und ihre Bevölkerung war bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts überwiegend ländlich ausgerichtet. In der Gegenreformation setzte sich der Katholizismus dauerhaft durch und entwickelte zugleich sakrale und festliche Riten (strenggläubige Veranstaltungen, Prozessionen). Immaterielle, unsichtbare und wunderbare Dinge waren allgegenwärtig und verliehen dem Alltagsleben eine symbolische Dimension. Diese Besonderheiten wurden häufig als archaisch und rückständig gebrandmarkt. Sie führten aber auch zur Bewahrung eines starken Identitätsbewusstseins und eines reichen Brauchtums. Die Abgeschlossenheit erwies sich zudem ein fruchtbarer Boden für visionäre oder wahnhafte Werke.
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Justine PythonDie fordernden Briefe von Justine Python sind dicht beschrieben. Die feine, gedrängte Schrift bedeckt das ganze Papier. In diesen Schreiben, die sie insbesondere an den Staatsanwalt richtet, klagt sie an. |
Sie beschwert sich und reklamiert ohne jede Zeichensetzung.Justine inszeniert ein «Papiergericht » und übernimmt gewisse Redewendungen des juristischen Diskurses, indem sie deren Regeln aufhebt, um eine ganz persönliche Musik zu schaffen. Die auf dem Papier aneinandergereihten Wörter gleichen einer Strickarbeit aus Buchstaben, bei der gelegentlich ein paar Maschen verloren gehen.
1932 in das Hospice von Marsens (heute Kantonales Psychiatrisches Spital Marsens) eingeliefert, gab sie ihr Schweigen auf, um von nun an ihre Anschuldigungen zu formulieren. Nachdem sie sechs Monate in der Anstalt verbracht hatte, kehrte sie nach Villariaz im Kanton Freiburg zurück, wo sie mit ihrem Mann zusammenlebte.
140 Bilder der Ursprünglichkeit
Die Ausstellung präsentiert mehr als 140 Arbeiten von 18 Freiburger Art-Brut-Schöpfer/innen, darunter Marc Moret, Lydie Thorimbert, Maurice Dumoulin, Gaston Savoy, Pierre Garbani und Eugénie Nogarède.
Ihre Plastiken, Gemälde, Zeichnungen oder Schriften sind mehrheitlich noch nie gezeigt worden. Diese Produktionen werden Werken gegenübergestellt, die der sakralen Tradition verpflichtet sind oder zur Volkskunst gehören, wie Reliquiare, Exvotos und Poyas. In den gewählten Themen, Techniken und Verfahren lassen sich Verbindungen zwischen diesen Objekten wahrnehmen. Die Collection de l?Art Brut lädt das Publikum ein, sich beim Besuch der Ausstellung selber ein Urteil zu bilden.
Fotografien von Mario del Curto und zwei Dokumentarfilme von Philippe Lespinasse und Andress Alvarez (Koproduktion mit Parti de l?Art Brut und LoKomotiv Films) und von Julien Magnin und Philippe Lespinasse (Produktion Parti de l?Art Brut) stellen das Lebensumfeld mehrerer Schöpfer/innen vor. Ein Katalog mit 62 Farbabbildungen, Porträtfotos und Texten von zehn Autor/innen verschiedener Ausrichtung wird in Koedition zwischen der Collection de l?Art Brut und dem Verlag La Sarine in Freiburg veröffentlicht.
Eine Art Abwehr der «boshaften und törichten» Freiburger Geschichten, die laut Nicolas Bouvier «das Bild einer zurückgebliebenen Bevölkerung und riesiger Familien von Bauersleuten voller Frostbeulen, deren Ignorantentum den Segen eines fortschrittsfeindlichen Pfarrers findet, glaubwürdig erscheinen
lassen».
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Die Zeichnungen von Lydie Thorimbert sind durch kräftige Farben und frontal dargestellte statische Figuren gekennzeichnet.
Ihre Lieblingsthemen sind bestimmte Feste des Kirchenjahrs und Personen, die sie aus ihrer Kindheit kennt, wie der Samichlaus mit seinen Schmutzlis. In den Ateliers de la Glâne in Romont gab sie sich ungehemmt ihrer Leidenschaft hin und schuf bis zu ihrem Tod im Jahr 2001 Hunderte von Kompositionen auf Papier.
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Marc Moret (1943) In Vuadens im Kanton Freiburg geboren, befasst sich Marc Moret mit der Herstellung von Hochreliefs aus allen möglichen Materialien oder Objekten, die teilweise seiner Mutter oder seinem Grossvater gehörten. So schafft er einzigartige Plastiken, die Reliquiaren gleichen und in denen sich Stoffe, Glasstückchen, Haare, Därme, Leim, Holz und Karton mischen. Marc Moret ist Bauer wie seine Eltern und seine Grosseltern. Umgeben von seinen Katzen, lebt er auf dem Bauernhof der Familie, wo er sich besonders fürsorglich um seine Jungkühe kümmert. Als Vegetarier tötet er keine Tiere. (mab/mc/th)