«Ich kann nicht ausschliessen, dass wir die Zinsen weiter senken werden», sagte Trichet. Analysten interpretierten die Aussagen des EZB-Präsidenten einhellig in Richtung weitere Zinssenkungen. Mit dem neuerlichen Schritt hat die Notenbank die Zinsen innerhalb nur eines Monats um einen ganzen Prozentpunkt verringert. Bereits Anfang Oktober hatte die EZB den Leitzins in einer gemeinsamen Aktion mit führenden Notenbanken um ebenfalls 0,5 Punkte reduziert. Der Leitzins im Euroraum beträgt aktuell 3,25 Prozent und liegt damit so tief wie seit fast zwei Jahren nicht mehr.
Geringere Inflationsgefahren – hohe Wachstumsrisiken
In der Pressekonferenz zur Zinsentscheidung betonte Trichet sowohl geringere Inflationsgefahren als auch hohe Wachstumsrisiken wegen der Finanzkrise. Die verschärften Turbulenzen an den Finanzmärkten dürften das Wachstum in den kommenden Monaten merklich dämpfen. Die Inflation dürfte indes weiter zurückgehen und sich im Laufe des kommenden Jahres mit etwa zwei Prozent auf ein Niveau ermässigen, das mit Preisstabilität vereinbar sei. Die Finanzierungsbedingungen im Euroraum hätten sich zuletzt zwar verschlechtert, Anzeichen für eine Kreditklemme gebe es derzeit aber nicht, sagte Trichet.
Bis Mitte 2009 wird Leitzins bei 2 % erwartet
Experten zeigten sich nach den Äusserungen Trichets überzeugt, dass die jüngste Zinssenkung nicht die letzte gewesen sei. Mehrheitlich wird erwartet, dass die Notenbank schon im Dezember mit einem abermals grossen Zinsschritt um 0,5 Punkte nachlegen wird. Bis Mitte 2009 wird der Leitzins im Euroraum dann bei 2,0 Prozent erwartet. Dies wäre das niedrigste Zinsniveau seit Ende 2005.
Aussergewöhnliche Zeiten – aussergewöhnliches Handeln
Als Grund für weiteren Zinssenkungen der EZB nannten Ökonomen vor allem die Finanzkrise und deren Auswirkungen auf die Realwirtschaft. «Aussergewöhnliche Zeiten erfordern aussergewöhnliches Handeln», kommentierte DekaBank-Ökonom Karsten Junius. Das wirtschaftliche Umfeld im Euroraum habe sich dramatisch eingetrübt, während die Inflationsgefahren zusehends nachliessen. Die WestLB betont unterdessen, dass die Finanzpolitik in der aktuellen Krise noch stärker als die Geldpolitik gefordert sei. In einem Umfeld verschärfter Kreditbedingungen wirke eine expansive Geldpolitik nur eingeschränkt, argumentieren die Volkswirte der Landesbank.
Grösserer Zinsschritt diskutiert
Die jüngste Zinsentscheidung ist laut Trichet im EZB-Rat einstimmig gefallen. Allerdings seien mehrere Optionen für einen Zinsschritt diskutiert worden. So sei auch ein grösserer Zinsschritt um 0,75 Punkte im Gespräch gewesen. Mit Blick auf die künftige geldpolitische Ausrichtung unterstrich Trichet, dass sich der EZB-Rat niemals im Vorhinein auf Zinsschritte festlege. «Wir entscheiden immer zu gegebener Zeit auf Grundlage von Daten und Fakten.»
Reaktion auf den Finanzmärkten
Die Reaktion an den Finanzmärkten war vor allem an den Aktienmärkten deutlich. So geriet der DAX nach der Zinsentscheidung der EZB deutlich in die Verlustzone – wohl aus Enttäuschung darüber, dass der Zinsschritt nicht noch deutlicher ausgefallen war. Die Bank of England hatte zuvor den Leitzins unerwartet stark um 1,50 Prozentpunkte auf 3,00 Prozent gesenkt. Nach den Äusserungen Trichets erholte sich der Aktienmarkt zunächst leicht, rutschte im weiteren Verlauf aber wieder tiefer in die Verlustzone. Auch der Euro gab nach der EZB-Entscheidung zunächst deutlich nach, erholte sich im weiteren Verlauf aber wieder etwas. Die deutschen Anleihen gaben zuvor erzielt Kursgewinne teilweise ab. ( awp/mc/pg/23)