Film Festival Locarno: 60 Jahre Fleckenfieber und Bilderflut im Maggiadelta
Von Helmuth Fuchs
Die Mission ist für einmal einfach: Einen Tag lang die Filmfestspiele von Locarno in ihrer bestmöglichen Form erleben! Dazu gehören Anreise, ein Blick hinter die Kulissen, die Begegnung mit den «Machern», der ausgezeichnete Film und eine inspirierende After-Party.
Die natürliche Kitschgrenze
Wer die Zeit richtig geniessen möchte, fährt am Besten mit dem Zug ins Tessin. Der entspannte Blick auf die kriechenden Kolonnen beidseits der Gotthardröhre sorgt für das kleine Glücksgefühl einer richtigen Entscheidung. Das Tessin
Albergo Losone | empfängt die Gäste diesmal mit Strahlen und Farben nahe der Kitschgrenze, genau so, wie man es sich erträumt. Wir haben uns für eine Übernachtung im Albergo Losone entschieden, eine ruhige Oase wenige Autominuten von der Piazza Grande entfernt. Inmitten betörender Düfte und südlicher Farben in der gemütlichen Garten-Lounge wird sogar das Lesen einiger e-Mails zum Freizeitvergnügen. |
Hohe Gastgeberschule und finanzielle Herausforderungen
Am frühen Vormittag werden wir von Riccarda Stevan im Hotel abgeholt und das erste Mal über die Organisation des Festivals orientiert. Die Solothurnerin lebt Sie seit langem im Tessin und sorgt als Administrations- und HR Direktorin für die reibungslosen Abläufe und grösstmögliche Mitarbeiterzufriedenheit. Zudem kümmert sich Michele Schandroch um uns. Er ist als ehemaliger Tourismusdirektor von Locarno und neuer Direktor der Banca Stato geradezu prädestiniert, uns die zuweilen versteckten Schönheiten von Locarno und zugänglich zu machen. Nach einem kleinen Rundgang durch das Festivalgelände steht ein Empfang bei Marco Solari an. Der Festival-Präsident ist einer der begnadetsten Causeure und Netzwerker der Schweiz. Anekdotenreich spannt er den Bogen von den Ursprüngen des Festivals bis hin zu den aktuellen organisatorischen und finanziellen Herausforderungen. Sein Feuer und seine Begeisterung scheinen ungebrochen, auch nach seinem siebten Festival und hunderten von Empfängen. Hohe Gastgeberschule, charmant verpackte Kompetenz und der Beweis, dass auch ein zerknitterter Anzug mit Eleganz getragen werden kann.
& Marco Solari, Präsident des Film Festivals Locarno
Nebst der inhaltlichen Gestaltung entscheidet die Technik über Erfolg oder Misserfolg des Festivals. Hier konnten die Locarner nochmals mächtig aufrüsten. Unter der Leitung von Patricia Boillat und mit absolut modernstem Gerät (z.B. Digital Cinema Technologie wie 2K DLP Cinema Projektoren und JPEG2000 DCI2 konforme D-Cinema Server) sorgt die Technikmannschaft für ein perfektes Licht- und Hörerlebnis.
Wein, Kunst und das Grotto von Enzo
Bevor wir uns dem Hauptereignis des Abends, der Verleihung des Ehrenleoparden an Hou Hsiao-Hsien und der anschliessenden Vorführung seines neuen Filmes «Le voyage du ballon rouge» widmen, ist noch eine körperliche Stärkung angesagt. Einen ersten Halt legen wir bei Matasci in Tenero ein, dem grössten Weinproduzenten- und Händler des Tessins. Während unten Weine degustiert und gehandelt werden, findet oben noch bis zum 18. August die Austellung «Fermo immagine – Das Filmfestival Locarno aus der Sicht der Fotografen» statt. Eine gelungene Kombination von Wein und Kunst. Hier treffen wir auch René Burri, den weltbekannten Fotografen intimer Gesten und grosser Menschen (unvergessen seine Fotografie des Zigarren rauchenden Che Guevaras).
Danach geht es weiter zu Da Enzo. Das Bilderbuch-Grotto mit dem romantischen Garten und hohem Kitschfaktor in Ponte Brolla, am Eingang des Maggiatals, ist dank seiner ausgezeichneten Küche und der hervorragenden Weinauswahl immer einen längeren Aufenthalt wert. Der Parkplatz quillt über von Ferraris, Aston Martins, Mercedes, Jaguars und deutet an, dass hier tafelt, wer dazu gehört, oder Willens ist, dazu zu gehören. Das Essen ist trotzdem hervorragend, die marktfrischen Angebote auf der Schiefertafel immer die erste Wahl. Enzo Andreatta begrüsst alle Gäste persönlich, Claude Nobs schaut am Tisch vorbei, die lokalen Honoratioren schmieden Zukunftspläne. Die Stimmung ist entspannt aufgeräumt, die anstehenden und gezeigten Filme ebenso ein Thema wie der Spagat des Festivals zwischen Kommerz und Kunst. | Frisch, kreativ und verlockend präsentiert: Die Gerichte bei Da Enzo |
Die Müdigkeit des Anspruchsvollen auf dem Platz der Leichtigkeit
Marco Solari hat uns gewarnt, dass der Film «Le voyage du ballon rouge» von Hou Hsiao-Hsien schon eher ein cinemaphiles Publikum ansprechen könnte, dies aber auch eine der Qualitäten von Locarno sei, dass man eben nicht nur massentaugliche, sondern auch anspruchsvolle, eher für ein kleines Publikum von Kennern gemachte Werke zeige. So vorbereitet überrascht der Film dennoch. Die Geschichte handelt vom siebenjährigen Simon (Simon Iteanu), der zu Beginn des Filmes einen roten Ballon erblickt, welcher als Faden derselben Farbe durch den Film schwebt. Julliette Binoche spielt Suzanne, die Mutter Simons, eine Puppenspielerin, die ihr neues Stück vorbereitet. Überfordert von den Alltagspflichten engagiert Suzanne Song (Song Fang), eine junge Filmstudentin als Nanny.
Juliette Binoche (Suzanne) und Simon Iteanu (Simon) in «Le voyage du ballon rouge»
von Hou Hsiao-Hsien
Song Fang (ihr wiederkehrendes Highlight: «Nennen Sie mich doch einfach Song»), schafft in ihrer Arbeit die Referenz zum Ballonthema des Filmes «Le voyage du ballon rouge» aus dem Jahr 1956 von Albert Lamorisse, sozusagen als Film im Film im Film. Suzanne eine Alleinerziehende in einer Pariser Altstadtwohnung, hat Finanzprobleme (kann sich aber immerhin eine Nanny, Klavierstunden für Nicolas und einen fahrtüchtigen Mini leisten) und ist eine ziemliche Nervensäge. Harmoniesüchtig oder am Rande eines Nervenzusammenbruchs mit Wutanfällen, selten in Normalzustand. Dazu ihre Auftritte als exaltiert kreischende Sprecherin in einem Puppentheater. Bis jetzt habe ich das nicht für möglich gehalten, aber die Binoche, für einmal in blond, kann wirklich nerven und das nicht im positiven Sinne. Ich bin sicher, dass Liebhaber von französischer Filme hier wunderbare Querverweise entdecken und an der Nicht-Handlung und Nicht-Entwicklung der Figuren vorbei sehen können. Die Einfühlsamkeit von Hou in eine fremde Kultur, deren Sprache er nicht spricht, ist erstaunlich, sein Bild von Paris stimmig, ohne sich stumpfer Klischees zu bedienen. Und doch erwarte ich von einem Film eines Regisseurs, der einen Ehrenleoparden bekommt, einfach mehr. Offenbar taten das auch die Zuschauer auf der Piazza Grande, deren Applaus für den Hauptfilm des Abends sehr verhalten ausfiel.
Der taiwanesische Regisseur Hou Hsiao-Hsien | Der taiwanesische Regisseur Hou Hsiao-Hsien hat den diesjährigen Ehrenleoparden des Festivals Locarno erhalten. Sein neuer Film «Le voyage du ballon rouge» war am 06. August auf der Piazza Grande zu sehen. Mit Hou Hsiao-Hsien zeichne das Festival «einen der wichtigsten Vertreter der taiwanesischen Nouvelle Vague der 80er-Jahre» aus, schreibt das Festival. Der 60-jährige Hou Hsiao-Hsien hat bisher 14 Filme gedreht; mehrere davon waren in Locarno zu sehen. 1985 war er im Wettbewerb von Locarno mit «A Summer at Grandpa`s» vertreten. 1986 zeigte er auf der Piazza Grande «A Time to Live – A Time to Die» und 1993 «The Puppetmaster». |
In Hochspannung entspannen, auch im nächsten Jahr
Nach der Zeit der Stille und Bewegungslosigkeit tut der kurze Spaziergang durch die Altstadt zur Party des Schweizer Fernsehens gut. Ingrid Deltenre und Armin Walpen sind die Gastgeber, Schauspieler, Sprecher, Artisten und eine Menge junger und schöner Leute bevölkern die Szenerie. Laut, fröhlich und beschwingt wird dem einsetzenden Regen in den gedeckten Arkaden getrotzt. Locarno ist in den Tagen des Festivals ein pulsierendes Zentrum der Filmwelt, ersehnte Vorstellung ungezwungener Südlichkeit und einfach ein toller Ort, um ein paar Tage in Hochspannung zu entspannen. Dass die Filme nicht immer mit der Szenerie mithalten können gehört genau so zum Programm, wie die unvergesslichen Höhepunkte einiger Minuten auf der Leinwand, die sich für immer ins Gedächtnis brennen. Der August im nächsten Jahr kennt zumindest jetzt schon einen festen Kalendereintrag: Film Festival Locarno 2008.
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