Fondation Beyeler: Alberto Giacometti
Die Ausstellung zeigt rund 150 bedeutende Arbeiten aus allen Schaffensperioden des Künstlers und bezieht Werke der anderen künstlerisch tätigen Mitglieder der Familie Giacometti mit ein. Sie umfasst Skulpturen, Gemälde, Zeichnungen und Designobjekte, die aus Giacometti-Familienbesitz, aus privaten Sammlungen sowie aus renommierten Museen aus aller Welt stammen.
Die Fondation Beyeler ist nicht nur wegen ihrer Architektur ein prädestinierter Ort für eine Giacometti-Ausstellung. Der Künstler ist in der Sammlung von Ernst und Hildy Beyeler mit exemplarischen Arbeiten seines visionären Spätwerks vertreten. Berühmt ist das Ensemble für die Chase Manhattan Plaza (1960), wobei die bekannte Skulptur L?homme qui marche II (1960) geradezu eines der Markenzeichen für die Fondation Beyeler, wenn nicht für Ernst Beyeler selbst, geworden ist. Ernst Beyeler kannte Alberto Giacometti und seine Familie gut und hat sich um dessen Werk in höchstem Masse verdient gemacht. Auch seinem Beharrungsvermögen und Verhandlungsgeschick ist es zu verdanken, dass die umfängliche Giacometti-Sammlung des Pittsburgher Industriellen G. David Thompson zu Beginn der 1960er-Jahre der Schweiz geschlossen erhalten blieb und den Grundstock der Alberto Giacometti-Stiftung in Zürich bilden konnte. Insgesamt hat Ernst Beyeler rund 300 Werke von Giacometti gehandelt.
Die Ausstellung zeichnet Alberto Giacomettis Leben anhand seiner Beziehungen zu den Familienmitgliedern nach und veranschaulicht seine Auffassung von Kunst. Sie ist wie eine Reise durch Albertos künstlerisches Universum angelegt, in dem die ihn umgebenden Personen Fixsterne waren. Der Austausch mit den Familienmitgliedern war für Alberto existenziell. Einen besonderen Bezugspunkt bildete der Vater, der Maler Giovanni Giacometti (1868?1933), der mit seinen Freunden Ferdinand Hodler, Giovanni Segantini und Cuno Amiet zu den prominentesten Künstlern der Schweizer Frühmoderne zählte. Giovanni Giacometti förderte den hochbegabten Alberto von Kindesbeinen an und beeinflusste als Lehrer das Werk seines Sohnes über die frühe Schaffenszeit hinaus. Viele der künstlerischen Probleme, die den Sohn beschäftigten, etwa Fragen der Distanz- und Grössenrelation, waren auch schon für den Vater ein Thema, wobei beide zu unterschiedlichen Resultaten gelangt sind.
Augusto Giacometti, Die Bar Olympia, 1928, Öl auf Leinwand, 170 x 222,5 cm, Bündner Kunstmuseum, Chur, © 2009 Kunsthaus Zürich
Der Maler Augusto Giacometti (1877?1947), Giovannis Cousin zweiten Grades, schlug einen ganz anderen künstlerischen Weg ein. Er bildet ein kreatives Gegengewicht zu den Künstlern in der Familie Giovannis und ist heute vor allem wegen seiner experimentellen, protoabstrakten Farbkompositionen bekannt.
Für Giovanni und Alberto dienten alle Familienmitglieder als Modelle. Neben dem Vater Giovanni war für Alberto vor allem der jüngere Bruder Diego (1902?1985) wichtig, der nicht nur sein bevorzugtes Modell, sondern auch sein langjähriger engster Mitarbeiter wurde. Diego hat sich nach Albertos Tod mit seinen Bronzemöbeln und Skulpturen einen Namen gemacht, die den deutlichen Einfluss seines Bruders zeigen. Als Modelle von Belang für Albertos künstlerische Entwicklung waren ebenso seine Mutter Annetta, seine Schwester Ottilia, der jüngste Bruder und namhafte Architekt Bruno (*1907), sein Neffe Silvio sowie Annette, Albertos Ehefrau. Sie begegnen uns in der Ausstellung zuerst in der Malerei Giovannis und danach in den Gemälden und Plastiken Albertos.
Giovanni Giacometti, Autoritratto davanti a paesaggio invernale, 1899, Selbstbildnis im Schnee, Öl auf Leinwand, 40 x 60 cm
Musée d’Art et d’Histoire, GenfEine entscheidende Erfahrung der Giacometti-Geschwister war das Spielen in unmittelbarer Nähe des väterlichen Ateliers. Diese spezielle Situation hat das Werk Albertos wie auch seine Beziehung zu den Geschwistern bestimmt. Das Spielerische in der Kunst, das in Stampa erlebt wurde und das sich so faszinierend in den kinetischen Objekten der surrealistischen Zeit der späten 1920er- und frühen 1930er-Jahre manifestierte, stand am Anfang einer Vorstellung, die für die Kunst von Alberto massgeblich geworden ist: der Idee der Einheit von Raum und Zeit. Dargestellte Bewegung ? das gilt auch für die Bewegung des Betrachters selbst ? ist ebenso an den Zeitraum gebunden, in dem sie geschieht, wie an den Raum, den sie durchmisst. In seiner Auseinandersetzung mit dem Raum-Zeit-Thema waren für Alberto die Mitglieder seiner Familie unverzichtbare Bezugspartner. Alberto Giacometti sah sich als Mittelpunkt eines Systems von Personen, Dingen, Werken, Orten, Erinnerungen und künftigen Geschehnissen.
Die Ausstellung thematisiert dieses Zusammenspiel von Raum, Zeit und Bewegung, wobei Giacomettis Werke in den Räumen Renzo Pianos in einer neuen Weise zur Geltung kommen. In Zusammenarbeit mit dem Engadiner Architekten und Giacometti-Experten Hans-Jörg Ruch und dem Lichtdesigner Charles Keller ist eine Ausstellungsgestaltung entwickelt worden, welche die Werke und insbesondere die spezielle Patina der Bronzeskulpturen besonders schön zur Entfaltung bringt.
Den Auftakt der Ausstellung markiert im Foyer die selten zu sehende vollständige Präsentation aller neun Fassungen der Femmes de Venise, die Alberto Giacometti für die Biennale von Venedig im Jahre 1956 geschaffen hat. Die Ausstellung folgt Albertos Lebenszyklus und deckt die wichtigen Schaffensphasen ab. Sie beginnt mit Giovanni Giacometti und zeigt dessen zentrale Werke mit den Motiven des Engadins und des familiären Umfelds, in das Alberto hineingeboren wurde. Im grossformatigen Gemälde Die Lampe (1912) wird der Familiengeist der Giacomettis besonders lebendig. In dem der frühen Schaffensphase Albertos gewidmeten Raum ist sein Selbstporträt von 1921 hervorzuheben, das bereits den Eigensinn des jugendlichen Künstlers verrät.
Alberto Giacometti, Selbstbildnis, 1921, Öl auf Leinwand, 82,5 x 70 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
Albertos von Spiel, Raum und Gefühl geprägten Werke, mit denen er in den 1930er-Jahren zunächst im Kreis der Surrealisten für Furore gesorgt hatte, werden in der Ausstellung etwa durch die erotische Skulptur Homme et femme (1928/29) oder die berühmte Boule suspendue von 1930/31 (Version von 1965) veranschaulicht. In dem damals Aufsehen erregenden Werk La main prise (1932) gelangt die Wirklichkeit der Gefühle in faszinierender Weise zum Ausdruck. Spektakulär sind auch die Bronze- und Gipsversionen des Cube (1933/34), der für Alberto sowohl seinen eigenen Kopf als auch gleichzeitig sein Atelier repräsentierte. Der Künstler stellte die hier gezeigte Gipsfassung des Cube an der Schweizerischen Landesausstellung von 1939 aus.
Selten gezeigte Designobjekte, die Alberto zumeist im Auftrag des High-Society-Innenarchitekten Jean-Michel Frank angefertigt hat, werden in einem weiteren Raum den Möbeln und Tierskulpturen seines Bruders Diego gegenübergestellt. Als besonderes Designobjekt ist Albertos gigantische Deckenlampe (1932?1934) zu erwähnen.
Im daran anschliessenden Saal ist nur eine einzige winzige Skulptur, Petit homme sur socle (1940/41, Bronze, 8,1 x 7 x 4,8 cm), zu sehen. Die Figur wird in genau der Grösse gezeigt, die durch die Distanz zwischen der Figur und der Wahrnehmung des Künstlers bestimmt ist, wodurch sie ihre monumentale Wirkung erhält. Mit dieser Installation wird an Albertos nicht ausgeführten Plan erinnert, einen sehr grossen Innenhof eines Pavillons in der erwähnten Schweizerischen Landesausstellung mit nur einer dieser winzigen Figuren auszustatten. So wird seine künstlerische Entwicklung seit Mitte der 1930er-Jahre pointiert erfahrbar gemacht.
Alberto Giacometti, La place, 1948, Der Platz, Bronze, 21,6 x 64,5 x 43,8 cm, The Museum of Modern Art, New York, © 2009. Digital image, The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florence, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
Giacomettis Überwindung der kleinen Figuren, die in sein berühmtes Spätwerk mündet, zeigt besonders aussagekräftig ein Schlüsselwerk dieser Phase: die Femme au chariot (um 1945), die in der Ausstellung in einer Gips- und einer Bronzeversion zu sehen ist. Dadurch, dass Giacometti die Figur auf Räder stellte, sie also beweglich machte, war die vorher für ihn unüberwindlich festgelegte Distanz zwischen ihm und dem Objekt wieder aufgehoben. Von nun an konnten die Figuren wieder grösser werden, und das Thema der Bewegung im Raum gewann zentrale Bedeutung, wie dies besonders eindrucksvoll in den Bronzeskulpturen des ersten Homme qui marche (1947) und L?homme qui chavire (1950), zur Geltung kommt. Aus dieser Schaffenszeit stammen auch die einzelnen Körperteilen gewidmeten, bekannten Skulpturen Le nez (1947, Version von 1949) und La main (1947), welche wohl auch auf Giacomettis Kriegserfahrung zurückgeht. Als ein existenzielles Selbstporträt verstand der Künstler die Tierskulptur Le chien (1951).
Alberto Giacometti, Nu debout dans l’atelier, 1954, Stehender Akt im Atelier, Öl auf Leinwand, 96,5 x 60 cm, Mariann Steegmann Stiftung/ Kunstmuseum Liechtenstein, Vaduz, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
Der grosse dem Spätwerk Giacomettis gewidmete Saal beginnt mit dem berühmten Chariot (1950), der die Präsentation an dieser Stelle dominiert. In den Porträts und Aktdarstellungen von Annette, die den Raum flankieren, wird die Annäherung Giacomettis an die weibliche Figur exemplarisch präsentiert, etwa in Grand nu (1962). Das Gegenteil von Bewegung ist das Stillhalten, von dem wiederum Bewegung ausgeht: Giacomettis stehende Frauenfiguren, seine auf existentielle Zeichen verdichteten Körper mit ihren aufgerauten und dadurch nicht ganz exakt fassbaren Oberflächen und Umrissen betonen, dass der Stillstand ein flüchtiger Moment ist.
Seine Idee einer Raumdefinition durch Gruppierungen von unbewegt-bewegten Skulpturen veranschaulichen die berühmten Platz-Kompositionen: Die kleinen Figuren von La place (1948) und die Skulpturengruppe Groupe de trois hommes I (1943?1949) stehen dem überlebensgrossen Ensemble für die Chase Manhattan Plaza (1960) gegenüber.
Der abschliessende Raum ist Albertos herausragenden Büsten und Porträts seines Bruder Diegos gewidmet, neben seinem Vater sicherlich seine künstlerisch wichtigste Bezugsperson. Der Saal wird dominiert von der grossartigen Grande tête de Diego (1954) einer Plastik, die paradoxerweise gleichzeitig zweidimensional wie dreidimensional ist und deren Dynamik sich vor allem dann entfaltet, wenn man sich um sie herum bewegt. Die Ausstellung endet mit der letzten überhaupt von Alberto Giacometti geschaffenen Skulptur, Elie Lotar III (assis) von 1965, die neben einem Gemälde des Gartens in Stampa (Le jardin à Stampa, 1954) steht, einem Rückblick auf das Paradies der Kindheit und gleichzeitig visionären Ausblicks in die Ewigkeit.
Die Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit der Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich, und der Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris, entstanden.
Galerie
Giovanni Giacometti, Pensierosa, 1913, Sinnendes Mädchen, Öl auf Leinwand, 65 x 60 cm, Privatsammlung, Schweiz, Foto : Claude Mercier, Genf
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Alberto Giacometti, Boule suspendue, 1930/31, (Version von 1965), Schwebende Kugel, Gips und Metall, 60,6 x 35,6 x 36,1 cm, Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
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Alberto Giacometti, Trois hommes qui marchent, 1948, Drei schreitende Männer, Bronze, 65 x 40 x 40 cm, Fondation Marguerite et Aimé Maeght, Saint-Paul, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
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Alberto Giacometti, La main, 1947, Die Hand, Bronze, 57 x 72 x 3,5 cm, Privatsammlung, Schweiz, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
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Alberto Giacometti, Le chariot, 1950, Der Wagen, Bronze, in Goldton patiniert, auf schwarz bemalten Holzsockeln, 167 x 69 x 69 cm, Höhe ohne Sockel: 145cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
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Alberto Giacometti, L’homme qui chavire, 1950, Taumelnder Mann, Bronze, 60 x 14 x 22 cm, Kunsthaus Zürich, Vereinigung Zürcher Kunstfreunde, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
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Alberto Giacometti, La mère de l’artiste, 1950, Die Mutter des Künstlers, Öl auf Leinwand, 89,9 x 61 cm, The Museum of Modern Art, New York, © 2009 Digital image, The Museum of Modern Art, New York / Scala, Florence, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
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Alberto Giacometti, Le chien, 1951, Der Hund, Bronze, 46 x 98,5 x 15 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich, Foto: Jean-Jacques Nobs, Basel
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Alberto Giacometti, Grande tête de Diego, 1954, Grosser Kopf Diegos, Bronze, 65 x 39,5 x 24,5 cm, Alberto Giacometti-Stiftung, Zürich, © FAAG/ 2009, ProLitteris, Zürich
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Diego Giacometti, Konsolentisch – La promenade des amis, um 1977, Bronze, patiniert, Glas, 88,5 x 122 x 36 cm, Privatsammlung, Schweiz, © 2009, ProLitteris, Zürich
Kurator der Ausstellung ist Ulf Küster.
Neben grosszügigen Leihgaben der erwähnten Stiftungen in Zürich und Paris versammelt die Ausstellung eine grosse Anzahl Leihgaben aus europäischen und amerikanischen Museen, darunter aus der Fondation Marguerite et Aimé Maeght, Saint-Paul, dem Musée national d?art moderne, Centre Georges Pompidou, Paris, dem Louisiana Museum of Modern Art, Humlebæk, der Staatsgalerie Stuttgart, der Hamburger Kunsthalle, der Tate, den Thyssen-Bornemisza Collections, Madrid, dem Kunsthaus Zürich, dem Kunstmuseum Basel, der Emanuel Hoffmann-Stiftung, Depositum in der Öffentlichen Kunstsammlung Basel, dem Bündner Kunstmuseum, Chur, sowie dem Museum of Modern Art, New York und der National Gallery of Art, Washington. Wiederum konnten viele Privatsammlungen dazu gewonnen werden, Ihre Schätze auszuleihen. Hier sei stellvertretend die Sammlung Eberhard W. Kornfeld in Bern besonders hervorgehoben.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog im Hatje Cantz Verlag, Ostfildern. Der Katalog leistet einen aktuellen, wichtigen Beitrag zur Giacometti-Forschung. Mit einem Grusswort von Felix Baumann und Texten von Ulf Küster, Pierre-Emmanuel Martin-Vivier und Véronique Wiesinger sowie einer Chronologie von Michiko Kono. Der Band umfasst 224 Seiten mit 160 Abbildungen in Farbe, und kostet CHF 68. (fb/mc/th)