Fotomuseum Winterthur: NeoRealismo – Die neue Fotografie in Italien 1932-1960

Der Neorealismus, vor allem bekannt durch die Filme von Visconti, De Sica oder Rossellini, war eine intensive künstlerische Reaktion auf die Transformationen Italiens im 20. Jahrhundert. Der Faschismus hatte Fotografie und Film als Massenmedien etabliert, nutzte sie für seine Zwecke und schuf eine neue Ästhetik der Abbildung von Realität. Nach seinem Zusammenbruch gelang dem Neorealismus der Durchbruch. Die neu gewonnene Meinungsfreiheit und die Notwendigkeit, sich als Italiener eine neue Identität zu schaffen, heizten das fieberhafte Interesse am Dokumentarischen, am Abbilden der Wirklichkeit und an der Erkundung des Landes an. In rascher Folge erschienen illustrierte Zeitschriften, die fotografisch-ethnografische Feldforschung begann, man wollte erfahren, wie man in den abgelegenen Provinzen lebt.


Fotografie, Film und Literatur stehen immer im Dialog
Die Gesellschaft brauchte Fotografen, die das Menschliche in all seinen Gegensätzen und an allen Schauplätzen festhielten. Die Ausstellung und das begleitende Buch versammeln rund 250 Fotografien von 75 Fotografen und stellen erstmals den fotografischen Neorealismus ausführlich vor. Sechs Autorinnen und Autoren zeichnen den Weg des Neorealismus von den Anfängen bis in die sechziger Jahre nach und machen die Wechselwirkungen zwischen Fotografie, Film und Literatur sichtbar.


Nino Migliori, <Gente dell'Emilia>, Emilia-Romagna 1959. (<Menschen der Emilia>)» src=»wp-content/articlefiles2010/37175-belasi.jpg» border=0><BR></STRONG>Nino Migliori, <Gente dell'Emilia>, Emilia-Romagna 1959. (<Menschen der Emilia>)<BR><BR><STRONG>Die grossen Gegensätze und unüberwindbaren Unterschiede Italiens</STRONG><BR>Der Neorealismus, bekannt durch berühmte Filme wie «Ossessione» (1943) von Luchino Visconti, «Roma, città aperta» (1945) von Roberto Rossellini, «Riso Amaro» (1949) von Giuseppe De Santis und vielen anderen mehr, war sichtbar eine künstlerische Reaktion auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse und die mächtigen Transformationen, die Italien im 20. Jahrhundert durchlief. Ein Land, das Anfang des 20. Jahrhunderts landwirtschaftlich geprägt war, mit wenigen Industriegebieten, die sich auf die Po-Ebene konzentrierten, und mit enormen Unterschieden zwischen Nord und Süd. Diese Situation änderte sich während des zwanzigjährigen Faschismus nicht grundlegend. Zwar entstanden einige Industriepole und zahlreiche Malariagebiete wurden trockengelegt; die erschreckende Rückständigkeit und Armut breiter Landstriche aber blieb konstant. Mit dem italienischen Eintritt in den Zweiten Weltkrieg verschärfte sich der Widerspruch zwischen der vom Faschismus propagierten Moderne und der ausbleibenden industriellen Entwicklung. Nach dem Krieg veränderte sich Italien in etwas mehr als einem Jahrzehnt von einer rückständigen Agrarnation zu einem Industrieland. Die Folgeerscheinung war eine Migration von Millionen von Menschen aus dem Süden in den Norden, vom Land in die Stadt. Täglich fuhren die Züge aus dem Süden in die Emilia-Romagna, die Lombardei und den Piemont; Mailand und Turin änderten ihr städtisches Erscheinungsbild. Ein langsamer, unerbittlicher Fluss aus Angst und Hoffnung strömte durch Italien. </P><br />
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Mario De Biasi, Gli italiani si voltano, Mailand 1954. (Die Italiener drehen sich um)

Der grosse Verdienst des Neorealismus ist es, eine umfangreiche Dokumentation dieser Transformation, dieser gewaltigen Umwälzung hinterlassen zu haben. In Film und Literatur ist er ausführlich aufgearbeitet worden. Für die Fotografie steht eine solche Untersuchung jedoch erst am Anfang. Dabei war es gerade die Bildsprache der Fotografie, in der sich diese grosse Zeit der italienischen Kunst am lebhaftesten und konsequentesten Ausdruck verschafft hat. Diese Ausstellung und das begleitende Buch arbeiten nun zum ersten Mal die fotografische Bildwelt zwischen 1932 und 1960 in Italien auf. Eine wichtige Einsicht der Ausstellung ist: Die neorealistische Poetik war das Ergebnis einer Verkettung historischer Ereignisse und künstlerischer Impulse, die sich nicht erschöpfend damit erklären lassen, dass am Ende des Krieges, dank der wieder gewonnenen Freiheit und als Reaktion auf die dunklen Jahre des Faschismus, plötzlich eine neue Fotografie entstanden ist. In der Nachkriegszeit erlebt der Neorealismus in der Fotografie zwar seine Höhepunkte und seine grösste Popularität, die Wiedergabe der Realität hatte jedoch bereits in den 1930er Jahren Einzug in die Bildsprache gehalten, dank – oder trotz – des faschistischen Regimes.


1932 machte die Jubiläumsausstellung über die faschistische Revolution die Fotografie zum bevorzugten Massenkommunikationsmittel, indem sie auf deren erzieherischen und propagandistischen Wert setzte. Das Regime wies dem Bild eine wichtige Bedeutung zu, parallel zu all den anderen technologischen Neuerungen, die in kurzer Folge entstanden: Radio, Rotationspresse und Tonfilm. Sie alle wurden in den Informationsdienst der Regierungen der 1930er und 1940er Jahre gestellt, denn sie ermöglichten einen breiten kommunikativen Zugriff auf die Bürger. Fotografien waren der für Mussolinis Erklärungen, sie bezeugten die Wahrheit und die Zuverlässigkeit seiner Worte. Es war zwar schwierig, zwischen Information und Propaganda zu unterscheiden, aber der lese- und schreibunkundige Teil des Volkes hatte eine neue Sprache entdeckt, die allen zugänglich war, vom Norden bis zum Süden und unabhängig von Dialekt und sozialer Schicht. Der grösste Teil der fotografischen Produktion stand unter strenger Aufsicht der faschistischen Zensur. Allen wurde schnell klar, was sich zu dokumentieren empfahl und was nicht. Dennoch war es unvermeidlich, dass durch die Maschen des strengen Aufsichtsregimes Ausnahmen und Widersprüche hindurchschlüpften. Die Fotografen, die ausgebildet waren, die aufzunehmen, hielten ein Instrument in den Händen, das ihnen weit grössere Möglichkeiten eröffnete, als das Regime selbst sie nutzte.


Mit dem Zusammenbruch des Faschismus gelang dem Neorealismus der Durchbruch. Die neue Meinungsfreiheit und die Notwendigkeit, sich als Italiener eine neue Identität zu schaffen, heizten das fieberhafte Interesse am Dokumentarischen, am Abbilden der Wirklichkeit und an der Erkundung des Landes an: Es erscheinen neue illustrierte Zeitschriften, die ethnografische Feldforschung beginnt, und man möchte erfahren, wie man in den abgelegenen Provinzen lebt. Die Gesellschaft ist im Umbruch, sie braucht Fotografen, die das Menschliche in all seinen Gegensätzen und an allen Schauplätzen festhalten. Die Nachfrage nach Bildern wächst ständig, die Fotografie erfasst alle Kommunikationsmedien. In dieser Phase des Wiederaufbaus steht der Versuch einer kollektiven Identitätsfindung an erster Stelle, und die Fotografie ist sein Instrument. Das schon während der faschistischen Epoche so wirkungsvoll eingesetzte Mittel wird nun in den Dienst der Demokratie gestellt. Ein gesellschaftliches Bewusstsein bildet sich heraus, man macht sich auf die Suche nach der Authentizität der Bewohner Italiens – ein Glücksfall für die Fotografie, die mittlerweile als visuelles Massenkommunikationsmittel par excellence gilt. Das Bedürfnis nach einer «Wiederaneignung des Realen», die Suche nach Direktheit, nach Objektivität, die Herausbildung eines sozialen Bewusstseins, die ethnologische Erkundung und Erforschung des eigenen Landes, zum Beispiel des Südens, waren die Themen der Neorealisten.

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