G20-Gipfel lässt neue Weltordnung ahnen

Dennoch kann die Kanzlerin dem Gipfel etwas abgewinnen. Ein neuer «Geist der Kooperation» werde sichtbar, nennt sie das auf ihre schnörkellose Art – in Wirklichkeit blitze in Seoul ein Stück neuer Weltordnung auf. Dabei ist auf den ersten Blick in Seoul kein grosser Streich gelungen. In der leidigen Frage der Handelsungleichgewichte und Verzerrungen im Welthandel gab es keine echte Bewegung. Guter Wille, Absichtserklärungen, ansonsten wurde das Thema, das über Wohltand und Arbeitsplätze in ganzen Nationen entscheiden kann, an Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy weitergereicht, dem nächsten G20-Statthalter. Eine Herkulesaufgabe selbst für den agilen Franzosen.


Weltregierung in Sachen Wirtschaftspolitik
Es ist der fünfte G20-Gipfel in Südkorea: Vor zwei Jahren, als das «Haus brannte», trat er erstmals zusammen. Damals in Washington stand den Teilnehmern der Schrecken ins Gesicht geschrieben, der Weltwirtschaft drohte der Kollaps. Es war die nackte Angst, die zum raschen Handeln trieb. Im Eilverfahren wurden neue Bankenregelungen («Basel III») gestemmt, der Internationale Währungsfonds (IWF) reformiert. Dort haben jetzt Länder wie China, Indien und Brasilien deutlich mehr Macht als zuvor. In Wirklichkeit ist so innerhalb von zwei Jahren ein Stück «neue Weltordnung» entstanden – und wenn einmal alles rund läuft, soll die Gruppe der 20 so etwas wie eine Weltregierung in Sachen Wirtschaftspolitik werden. «Geist der Kooperation», nennt das Merkel bescheiden, in Wahrheit handelt es sich um einen Riesenfortschritt.


Wirtschaftsaufschwung «made in Germany»
Es ist noch nicht lange her, da waren China und Indien bettelarme Staaten, abhängig von Almosen oder Entwicklungshilfe – jetzt sitzen sie am Tisch der Mächtigen. Obama spricht von «revolutionärem und evolutionärem Fortschritt» – was sich machtpolitisch derzeit vollzieht sind wahre Quantensprünge. Merkel hat gut lachen. Innenpolitisch mag sie bedrängt sein, zeitweise raubten ihr in Seoul Spekulationen über eine Kabinettsumbildung die Laune – doch auf internationalem Parkett ist sie stärker als je zuvor. Wirtschaftsaufschwung «made in Germany», 20 Jahres neues, wiedervereinigtes Deutschland – auch ganz persönlich demonstriert sie in Seoul neues Selbstvertrauen, etwa im Konflikt mit US-Präsident Barack Obama.


Obama mehrmals in der Defensive
Der Konflikt Chinas und Deutschlands mit den USA beherrschte den Gipfel, der angeschlagene Präsident und die wirtschaftlich gebeutelte Weltmacht gegen Exportgrossmeister und «Krisengewinner» China und Deutschland – auch diese Konstellation spiegelt ein Stück neue Weltordnung wider. Kein Zweifel: Die USA müssen eine neue Rolle finden. Auch der «mächtigste Mann der Welt» bekommt heute nicht immer das, was er will. Obama war nach der Schlappe bei den Kongresswahlen innenpolitisch angeschlagen nach Seoul gereist, hatte auf Beistand im Währungsstreit mit China erhofft. Stattdessen «fand er sich mehrmals in der Defensive wieder», schreibt die «New York Times». Das klingt, als sei das Blatt darüber verwundert.


Kritik an US-Politik des billigen Geldes
Länder wie Brasilien liessen Breitseiten gegen die US-Politik des billigen Geldes los, Chinas Staatschef Hu Jintao erteilte Obama Lehren in Sachen Dollar und Stabilität, Merkel wehrte brüsk amerikanische Begehrlichkeiten nach «Exportbremsen» ab. In Seoul kursierten Sätze wie «Die USA müssen es lernen, dass sie nicht immer Nummer eins sind». Auch das zeigt, dass sich in Sachen globaler Machtbalance etwas verschiebt. Obama spricht bereits von «unvermeidlichen Differenzen». Er sagte auch, der «Aufstieg Chinas» freue ihn – Einsicht ins Unvermeidliche, Pfeifen im Walde?


Neue Rollenverteilung in einer neuen Welt
Obama ist in einer Zwickmühle. «China-bashing», das Einschlagen auf vermeintlich unlautere Konkurrenz aus dem Riesenreich, gehört mittlerweile zum rhetorischen Standard amerikanischer Politiker jeder Couleur. Zu Hause ist ihnen Beifall sicher – auf internationalen Parkett rächt sich das bisweilen, merken bedächtige Geister in Seoul an. Auch mit den Deutschen, ihrer angeblichen «Sparsucht» und ihren angeblich zu hohen Exporten gingen die Amerikaner nicht immer pfleglich um. «Wir sagen den Leuten, dass sie dies und das tun sollen», meint Jagdisch Bhagwati von der Columbia University. «Das ist anmassend. Und es schafft eine Atmosphäre der Feindseligkeit.» Auch hier geht es um neue Rollenverteilung in einer neuen Welt – viele müssen sich erst daran gewöhnen.  (awp/mc/ss/16)

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