GDI-Trendradar 2.07: Gesellschaftstrends 2008+
Der internationale Think-Tank erklärt zudem, wie uns Wohnungen verarzten, weshalb in New York Kaninchen auf Balkonen leben, und was «Microtrends» sind.
Von Alain Egli (Manager PR & Communications GDI) und Tobias Gremaud (Head of Marketing & Communications GDI)
1. Trends: Von Mega zu Micro
Technologie erfasst zunehmend alle Lebensbereiche. Gleichzeitig führt die weltweite Vernetzung von Wirtschaft, Kulturen und IT zu einer exponentiell wachsenden Unübersichtlichkeit. Die Raster und Einteilungen von gestern werden unbrauchbar: Der Einfalt der Masse folgt die Vielfalt der Einzelnen. Es entstehen Nischenmärkte, die den Handel neu segmentieren und strukturieren. Der Durchschnittskunde verschwindet; selbst Bestseller und Megahits erreichen heute nur noch selten mehr als drei Prozent der Kunden. Mit der homogenen Masse der Konsumenten verschwinden auch die Megatrends. Allgemein gültige gesellschaftliche Strömungen verteilen sich stärker denn je in Nischenbewegungen, die nur noch kleine Teile des Marktes betreffen – und je nach Segment sogar gegenläufig sein können. Der neue Ansatz heisst «Microtrend», wie ihn Mark J. Penn, der Chef von Burson-Marsteller, unlängst benannte. Solche zu erkennen und gewinnbringend zu nutzen, gehört zu den Herausforderungen einer immer komplexeren Welt.
2. Neidökonomie: Von Luxus- zu Statusmärkten
Der wahre Motor des Konsums ist die Lust am Status. Ob schnelle Autos, brillantenbesetzte Uhren oder Designerkleidung – immer geht dem Kaufimpuls eines voran: die Sehnsucht nach sozialer Anerkennung. Denn wer ohne Status ist, wird ignoriert. Dieser Antrieb spielt selbst beim «immateriellen» Luxus jenseits der klassischen Prestige-Güter: ein Sabbatical, Rücksicht auf die Umwelt, Zeit mit den Kindern, Wohltätigkeit oder ein «bewusster» Lebensstil – die Jagd nach «Statusfaction» bestimmt unser Verhalten grundlegend; der Mensch ist ein ehrsüchtiges «animal ambitiosum», getrieben von Neid. Die Bedeutung des Status wächst heute rasant: In der westlichen Welt gibt es nach Jahren des ökonomischen Aufschwungs immer mehr Menschen, deren Grundbedürfnisse befriedigt sind. Zu ihnen gesellen sich zunehmend die wachsenden Mittelschichten in den wirtschaftlich aufstrebenden Nationen; von der laufend steigenden Zahl wirklich Reicher dieser Welt ganz zu schweigen. Insgesamt hat die Meritokratie die Sockel traditioneller Gesellschaftsklassen aufgeweicht, und wir befinden uns im Treibsand des lebenslangen Wettbewerbs um Rang und Ansehen – im permanenten Statusstress. Diese Entwicklung setzt eine Spirale in Gang, bei der die Halbwertszeit von Statussymbolen laufend sinkt. Für Anbieter entstehen mit den neuen Bedürfnissen aber neue Märkte und damit neue Chancen – wenn sie den Status-Shift verstehen und clever nutzen.
3. Einfachheit: Von Lebens-Krise zum Lebens-Coach
Die zunehmende Komplexität des Lebens führt zur Sehnsucht nach Einfachheit. So nennt auch Dell-CEO Michael Dell «simplicity» die wichtigste Bewegung in der IT: Die Zukunft heisst «one click/one button». Gekoppelt mit der wachsenden Zeitknappheit lässt die Überforderung der Menschen die Nachfrage nach Dienstleistungen steigen, die entlasten. Kunden suchen Unterstützung für ihren Alltag; Service und Support werden zur wichtigsten Zusatzfunktion von Anbietern. Immer häufiger offerieren sie Assistenz, Concierges und Hilfe zum Selbstmanagement. Wirklich persönlichen Service erhalten dabei allerdings nur Superreiche wie etwa die Kunden der Edel-Kreditkarte American Express Centaurus. Weniger Wohlhabende müssen sich mit virtuellen Assistenten und elektronischen Concierges begnügen. So bietet Philipps, gestützt auf eine Datenbank des Verlags Condé Nast, via Mobiltelefon einen kostenlosen «simplicity concierge» mit Empfehlungsdienst für Städtetouristen an. Der Nintendo Life Coach for Girls verspricht, das Leben junger Frauen in nur drei Monaten zu verändern. Die Website thenag.net unterstützt User dabei, ihre guten Vorsätze umzusetzen. Und iwantsandy.com übernimmt als virtuelle Assistentin via e-Mail viele Aufgaben einer klassischen Sekretärin. Noch stehen solche virtuellen Diät- und Gesundheits-Trainer, Concierge- und Stilberatungs-Dienste noch am Anfang, doch sie werden laufend besser. Bald schon wird unter den Unternehmen ein Wettbewerb um die besten Concierge-Services entstehen – denn sie sind der Schlüssel zu den wirklichen Bedürfnissen und Problemen der Kunden.
4. Wohnen: Von Art zur Arznei
Gesundheits- und Öko-Boom machen sich auch beim Wohnen breit. Die eigenen vier Wände entwickeln sich zunehmend zur Wellnesszone, Feng Shui war erst der Anfang. «Schöner Wohnen» allein reicht heute nicht mehr; die Menschen wollen durch Produkte nicht bloss befriedigt oder verführt, sondern verändert werden. Private Spas sind daher mehr als eine schöne Badewelt oder eine Wohlfühloase zur Erholung. Es geht ebenso ums Heilen und um mentale Transformation, um Einklang von Körper, Geist und Seele. Die neue Behausung soll uns auch verwandeln, uns zu «neuen» Menschen machen – die Wohnung wird zum Heilmittel. Gefragt sind grundlegend neue, gesunde Wohnkonzepte für Bäder, Küchen und Schlafzimmer, die von Ärzten und Architekten gemeinsam entwickelt werden.
5. Natur: Von Betonmauern zu City-Bauern
Natur ist gut: Quell von Ruhe und Erholung, Bereicherung unseres Lebens, Garant für Wertigkeit und Gesundheit von Produkten. Diese positive Wahrnehmung der Natur wächst mit jeder neuen Warnung vor der Klimaerwärmung und der Öko-Bedrohung. Um ihr in einer entfremdeten Welt näher zu sein, holen wir uns die Natur in die Städte zurück. Das weite Spektrum der «Urban Farming»-Projekte, von der Kaninchenzucht auf New Yorker Balkonen bis zu innerstädtischen Treibhaussilos, ist ein Ausdruck dieser Sehnsucht. Nach «Kunst am Bau» erobert nun «Natur am Bau» unsere Städte: begrünte Dächer, überwachsene Mauern und kleinste Biorefugien geben der neuen Naturverbundenheit einen Ausdruck. Im Zuge dieser Überhöhung der Natur wächst der Markt für «natürliche» Materialien und Farben. Aber auch Naturdarstellungen werden beliebter: elektro-lumiszente Blumentapeten, luftbefeuchtende Pflanzenwände und smarte Bauelemente sind erst der Anfang – das neue Arkadien liegt zwei Strassen weiter.
6. Toleranz: Von voll zu null
Als Ende der Neunzigerjahre ein Name für die erste Dekade nach 1999 gesucht wurde, tauchte schnell «Nuller-Jahre» auf. Wie treffend diese Bezeichnung ist, sehen wir heute: Null-Energie, Null Zusätze, Null Kalorien, Null Fett, Null Alkohol, Null Verschmutzung, Null Wartezeit, Null Autos, Null Nebenwirkungen, Null Risiko, Null Werbung. Auf Englisch heisst das ebenso treffend: Zero-Impact Chocolate-Bar, Zero-Impact Car, Zero-Impact House, Zero-Impact Holidays, und nicht zuletzt Coke Zero. Null wird quer durch alle Kategorien zum Idealwert und zum immer beliebteren Verkaufsargument: Weniger ist mehr. Vorbei ist das kunterbunte Werte-Jekami des «anything goes». Die zunehmende Beliebtheit der Null ist Ausdruck einer wachsenden Null-Toleranz. Gespiesen wird der Trend von Überforderung und vom Wunsch nach schrankenloser Selbstverwirklichung. Dazu passen maximal natürliche, lokale und frische Produkte; ökologisch und sozial korrekte Güter; und immer weniger ungewollte Nebenwirkungen. In der Folge leben Umwelt-, Klima- oder Gesundheits-Sünder immer gefährlicher. Gleichzeitig erzeugt die sich ausbreitende Verbotsmentalität eine trotzige Freude am Tabubruch – womit auch den Betreibern von Lust-Inseln und Exzess-Tempeln durchaus rosige Zeiten bevorstehen könnten.
(GDI/mc/hfu)