IBM-Forschung: Medizinlaboratorien im Kleinstformat
Durch seine geringe Grösse lässt sich der Chip leicht in ein handliches Gerät integrieren ? in der Form etwa ähnlich einem Schwangerschaftstest oder auch einer Kreditkarte ? und direkt am Ort der Behandlung einsetzen, wie IBM ? Research Zürich in einer Mitteilung schreibt. Demnach verkürzt die neue Technologie die Testdauer im Vergleich zu herkömmlichen Labortests signifikant. Dadurch würde es möglich, Patienten sofort nach einem Herzinfarkt auf dessen Ursache zu testen und schneller die geeigneten medizinischen Massnahmen zu ergreifen.
Zukunftsweisendes Testverfahren
In der Dezemberausgabe des Fachmagazins Lab on a Chip beschreiben die IBM Forscher Luc Gervais und Emmanuel Delamarche in Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Basel ein zukunftsweisendes, medizinisches Testverfahren, das Kapillarkräfte in haarfeinen Strukturen und Kanälen nutzt, um Krankheitsmarker, Bakterien oder Viren in kleinsten Mengen von Blut oder Serum zu detektieren. Krankheitsmarker sind spezifische Proteine, die sich aufgrund einer Krankheit bilden und in der medizinischen Diagnose als Nachweis der Erkrankung dienen. Kapillarkräfte treten immer dann auf, wenn Flüssigkeiten mit Kapillaren, wie zum Beispiel engen Röhren, Spalten oder Hohlräumen in Kontakt kommen. Ein klassisches Beispiel ist Löschpapier, das Tinte aufsaugt.
Kostbare Zeit sparen
«Der von uns entwickelte Test vereint drei essentiell wichtige Aspekte in der medizinischen Diagnose: Er ist handlich, schnell und benötigt kleinste Mengen an Flüssigkeit», fasst Emmanuel Delamarche, Leiter des Projektes bei IBM Research ? Zürich zusammen. «Er spart dem medizinischen Personal kostbare Zeit in Situationen, wo jede Minute zählt, um Leben zu retten.»
Alles in einem Chip
In einem länglichen Siliziumchip mit einer Abmessung von 1×5 cm haben die Wissenschaftler in drei Jahren Forschungsarbeit alle Elemente, die für die Analyse gebraucht werden, durch das gezielte Anordnen von Mikrometer-grossen Strukturen, integriert. Die Mikrostrukturen erzeugen auch die Kapillareffekte, die die Richtung und die Geschwindigkeit der Flüssigkeit durch den Chip hindurch bestimmen und die ihn so effizient machen. In nur 15 Sekunden kann der Chip auf diese Art und Weise mit Flüssigkeit gefüllt werden ? ein Vielfaches schneller als in heutigen Verfahren. Ist eine komplexere Analyse notwendig, kann die Füllgeschwindigkeit auf mehrere Minuten ausgedehnt werden.
Ein weiterer Vorteil ist die simple Handhabung. Wo traditionelle Verfahren viele Einzelschritte von der Blutentnahme bis zum Laborresultat benötigen, fasst das Minilabor auf dem Chip alle Schritte zu einem zusammen:
– Als Erstes wird ein Mikroliter Probenflüssigkeit ? ein Fünfzigstel einer Träne – am vorderen Ende des Chips aufgebracht.
– Eine haarfeine Struktur am gegenüberliegenden Ende wirkt wie eine Pumpe und erzeugt einen Kapillareffekt, der die Probenflüssigkeit veranlasst, durch den Chip zu strömen. Die Fliessgeschwindigkeit wird durch die Grösse und Struktur dieser «Kapillarpumpe» bestimmt.
– Die Flüssigkeit wird zunächst durch ein verästeltes Netz von Mikrokanälen geleitet. Dieser Schritt ist wichtig, um Luftblasen oder Verstopfungen zu vermeiden.
– Dann passiert die Flüssigkeit eine Region, in der sich Antikörper befinden. Antikörper werden als Immunantwort des Körpers auf eine Krankheit gebildet und in der medizinischen Analyse zum Nachweis von Krankheiten eingesetzt. Sie funktionieren nach dem Schlüssel-und-Schloss-Prinzip: Befindet sich in der Testflüssigkeit der zum Antikörper passende Krankheitsmarker, koppeln sich beide aneinander. Der IBM Chip verwendet 70 Pikoliter Antikörper ? ein Millionstel einer Träne. Durch diese geringe Menge können sie sich effizient und sehr schnell in der durchströmenden Testflüssigkeit lösen und binden. Die Antikörper sind zwecks der Analyse zudem mit Fluoreszenzfarbstoffen verbunden.
– In der 30 Mikrometer breiten und 20 Mikrometer tiefen Reaktionskammer lagern sich die mit Antikörpern gekoppelten Krankheitsmarker ab. Mit einem portablen Lesesensor ? ähnlich dem einer Digitalkamera, aber wesentlich empfindlicher ? kann man unter einem fokussierten Rotlicht die Fluoreszenz sichtbar machen. Mediziner können anhand der Menge des gemessenen Lichts den Nachweis für eine bestimmte Krankheit erbringen.
Vom Labor in den Markt
Im Rahmen von IBM?s offener Innovationsstrategie wurde diese neue Technologie mit Partnern aus Wissenschaft und Gesundheitswesen erprobt. Die Arbeit wurde zudem unterstützt von der KTI, der schweizerischen Förderagentur für Innovation. «Dieser Mikrochip ist der nächste Schritt in der Entwicklung von medizinischen Analyse- und Diagnosetools. Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit IBM Research ? Zürich, um diese Innovation weiter auszubauen», sagt Thierry Leclipteux, Geschäftsführer und wissenschaftlicher Leiter von Coris BioConcept, einem Biotechnologieunternehmen in Belgien, das sich auf schnelle Testverfahren für die Diagnose von Magen/Darm- und Atemwegserkrankungen spezialisiert.
Flexibles, leicht adaptierbares Design
Das Design des Analysetools ist sehr flexibel und kann je nach Anwendung leicht adaptiert werden. Auch das Anwendungsspektrum ist breit gefächert: Der Chip könnte z. B. auch für den Nachweis von verschiedensten chemischen und toxischen Stoffen eingesetzt werden.
Warum IBM?
Mikro- und Nanotechnologien bilden ein zentrales Forschungsthema bei IBM. Sie sind entscheidend für die Weiterentwicklung der Chip- und Computertechnologie. IBM Forscher haben unzählige Pionierleistungen erbracht und die Grenzen unseres Wissens über sehr kleine Strukturen und Prozesse auf der Mikro- und Nanoskala stetig erweitert. Diese Arbeit ist ein direktes Resultat der Forschung in diesem Bereich. (ibm/mc/ps)
Informationen
Die wissenschaftliche Arbeit «Toward one-step point-of-care immunodiagnostics using capillary-driven microfluidics and PDMS substrate» von Luc Gervais und Emmanuel Delamarche, ist in Lab on a Chip, Vol. 9, Nr. 23, S. 3330 ? 3337 (Dezember 2009) erschienen.