Das Gemeinschaftsprojekt nutzt zum ersten Mal die mikroskopische Abbildung eines einzelnen Moleküls, um dessen chemische Struktur zu bestimmen. Damit erweist sich die Rasterkraftmikroskopie als eine wirkungsvolle Methode zur Identifikation unbekannter Moleküle und eröffnet Einsatzmöglichkeiten dieses speziellen Mikroskops bei der Erforschung solcher Moleküle als Bausteine für neue Medikamente. Die Natur weist einen unermesslichen Reichtum an chemischen Verbindungen und natürlichen Wirkstoffen auf, die für die Entwicklung neuer und besserer Arzneimittel genutzt werden könnten. In sehr unterschiedlichen und extremen Lebensräumen ? von Wüstengegenden bis zur Tiefsee ? versuchen Wissenschaftler bisher unbekannten Molekülen mit pharmazeutischer Wirkung auf die Spur zu kommen.
Neuartige Wirkstoff-Forschung
Die Wissenschaftler des Marine Biodiscovery Centre der Universität Aberdeen legen ihren Fokus speziell auf die Erforschung solcher Moleküle in Meeresorganismen, die als Bausteine für Medikamente gegen Krebs, Entzündungen, Infektionen und parasitäre Krankheiten dienen könnten. Studien des National Cancer Institutes in den U.S.A. haben ergeben, dass der maritime Lebensraum ? insbesondere abgelegene und weitestgehend unberührte Regionen ? eine vielversprechende Quelle für die oben genannte Wirkstoff-Forschung darstellt. Professor Marcel Jaspars, Leiter des Marine Biodiscovery Centre betont: «Die Natur bietet ein vielfältiges Angebot an einzigartigen Organismen, die wiederum unzählige, für die pharmazeutische Forschung interessante chemische Verbindungen enthalten. Um deren medizinisches Potenzial bestimmen zu können, müssen wir jedoch zuerst verstehen, wie diese Moleküle ? bis auf das einzelne Atom genau ? aufgebaut und angeordnet sind.»
Bakterien aus Marianengraben untersucht
Hierbei genügt es nicht allein zu wissen, welche Atome und wie viele Atome ein Molekül enthält. Von entscheidender Bedeutung für die Eigenschaften eines Moleküls sind die genaue Anordnung der enthaltenen Atome und deren Verbindungen untereinander. Dies festzustellen ist ein langwieriger Prozess, der bis zu mehreren Monaten in Anspruch nehmen kann. Im letzten Jahr begannen Professor Jaspars und seine Forschungsgruppe mit der Untersuchung der Stoffwechselprodukte einer Bakterienart, die in einer Schlammprobe vom Marianengraben im Pazifik ? mit fast 11’000 Meter unter der Meeresoberfläche der tiefste Punkt der Erde ? gefunden wurde.* Aus diesem druckresistenten Bakterium, genannt Dermacoccus abyssi, haben die Forscher ein Molekül extrahiert, das sich nicht zweifelsfrei bestimmen liess. Mit Hilfe von hochauflösender Spektometrie konnte zwar die chemische Zusammensetzung (C16H10N2O2) eindeutig bestimmt werden, aber die Bestimmung der exakten Molekülstruktur erwies sich als Herausforderung. Selbst hochspezialisierte Kernspinresonanz-Verfahren lieferten kein eindeutiges Ergebnis ? sondern gleich vier mögliche Strukturen.
Tiefsee-Moleküle mit dem AFM ertastet
Auf der Suche nach einer alternativen Nachweismethode kontaktierte Professor Jaspars das IBM Forschungszentrum in Rüschlikon. Hier arbeiten Gerhard Meyer, Leo Gross, Fabian Mohn und Nikolaj Moll an hochauflösender Rasterkraft- und Rastertunnelmikroskopie. 2009 gelang es ihnen erstmalig die chemische Struktur eines einzelnen organischen Moleküls im Detail mit dem AFM aufzulösen.** Bereits innerhalb weniger Tage gelang es den IBM Forschern, die einzelnen Tiefsee-Moleküle mit dem AFM in atomarer Auflösung abzubilden. Dichtefunktional-Simulationen untermauerten das Messergebnis und bestätigten, dass es sich bei dem Molekül um Cephalandole A handelte, einem Molekül, das erstmals in einer taiwanesischen Orchidee nachgewiesen wurde. Das Experiment war die erste erfolgreiche Anwendung eines AFM zur Identifikation der chemischen Struktur eines natürlichen Moleküls.
«Enorme Leistung»
«Dieses Experiment zeigt, dass die Rasterkraftmikroskopie, dank ihrer erfolgreichen Weiterentwicklung in den letzten Jahren, einen wichtigen Beitrag bei der Identifikation von Molekülen leisten kann, bei denen die heute gebräuchlichen Nachweismethoden an ihre Grenzen stossen», sagt Dr. Leo Gross, Forscher bei IBM Research ? Zürich. » Die Möglichkeit, die Struktur eines Moleküls in so kurzer Zeit mit einem Mikroskop sichtbar zu machen, ist eine enorme Leistung, wenn man bedenkt, wie aufwändig und zeitintensiv der herkömmliche Prozess ist. Die Methode könnte so die Erforschung bestimmter Wirkstoffe beschleunigen», betont Professor Jaspars. (ibm/mc/ps)
Chemische Nachweismethoden
Die Bestimmung der Struktur organischer Moleküle erfolgt heutzutage mittels spektroskopischer Techniken, wie Massenspektroskopie oder Kernspinresonanz (engl. nuclear magnetic resonance, kurz NMR). Die Massenspektrometrie ermittelt die chemische Zusammensetzung des Moleküls. Die Kernspinresonanzspektroskopie, verwandt mit der Magnetresonanztomographie, ist die klassische Methode um die genaue Struktur zu ermitteln. Jedes Kohlenstoff- und Wasserstoffatom in einem Molekül hat eine bestimmte Resonanzfrequenz im NMR-Spektrum. Durch die Anwendung ausgeklügelter Varianten dieser Technik kann bestimmt werden, wie Wasserstoff- und Kohlenstoffatome miteinander verbunden sind, folglich kann die Molekülstruktur bestimmt werden. Kommen jedoch nur wenige Wasserstoffatome im Molekül vor ? wie im vorliegenden Fall ? liefern die herkömmlichen Verfahren oft keine eindeutige Lösung.
AFM: Moleküle atomar auflösen
Das AFM verwendet eine atomar scharfe Metallspitze, die an einer kleinen Feder angebracht ist, um die winzigen Kräfte zu messen, die auftreten, wenn diese Spitze sehr nah an eine Probe, wie etwa ein Molekül, herangeführt wird. Aus der ortsaufgelösten Messung dieser Kräfte kann ein Abbild der Oberfläche erstellt werden. Damit die chemische Struktur eines Moleküls sichtbar wird, ist es notwendig, die Spitze äusserst nah ? weniger als einen Nanometer ? an das Molekül heranzuführen. Nur in diesem Bereich treten Kräfte auf, die massgeblich durch chemische Wechselwirkung bestimmt werden. Um dies zu erreichen, präparierten die IBM Forscher die AFM-Spitze gezielt mit einem Kohlenstoffmonoxid (CO) Molekül, was deren Empfindlichkeit entscheidend verbesserte und die einzelnen Atome und Bindungen im Molekül sichtbar machte.
IBM und Nanotechnologie
Nanowissenschaften haben eine lange Tradition in der IBM Forschung. 1981 erfanden die IBM Forscher Gerd Binnig und Heinrich Rohrer am Zürcher Labor das Rastertunnelmikroskop (STM), welches das Tor zur Welt der Atome und Moleküle weit aufstiess: Dank dieser bahnbrechenden Erfindung, die 1986 mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet wurde, konnte man zum erstem Mal Oberflächen atomar abbilden und einzelne Atome «sehen». Ein weiteres grundlegendes Werkzeug für die Erforschung des Nanokosmos ist das Rasterkraftmikroskop, das eng mit dem STM verwandt ist und 1986 von Gerd Binnig erfunden wurde.
Die erste erfolgreiche atomare Manipulation mit dem STM ? das gezielte Verschieben und Anordnen von einzelnen Atomen ? wurde 1990 durch IBM Fellow Don Eigler von IBM Research ? Almaden gezeigt. Er ordnete 35 Xenon-Atome zu den Buchstaben «I-B-M» an. In der Folge behauptete IBM durch weitere Erfindungen, Weiterentwicklungen und Anwendungen dieser Techniken seine herausragende Rolle auf dem Gebiet der Nanowissenschaften. Kürzlich gelang mit der atomaren Abbildung einzelner Moleküle** ein weiterer wissenschaftlicher Durchbruch am Labor in Zürich.
Derzeit entsteht auf dem Campus der IBM in Rüschlikon ein Forschungszentrum für Nanotechnologie. Das neue Zentrum, an dem die Forschungsaktivitäten 2011 aufgenommen werden, ist Teil einer strategischen Partnerschaft in Nanotechnologie mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ).
Über das Marine Biodiscovery Centre
Das Marine Biodiscovery Center der Universität Aberdeen wurde am 15. Juni 2010 offiziell eröffnet und setzt seinen Schwerpunkt auf die Erforschung neuer pharmazeutischer Wirkstoffe aus einzigartigen Meeresorganismen. Es ist eines von nur drei Forschungszentren in Europa auf diesem Gebiet und interdisziplinär ausgerichtet. Chemiker und Biologen forschen gemeinsam mit dem Ziel, neuartige Medikamente zu entwickeln.
* Die Sedimentprobe wurden mit einem Tiefsee-U-Boot durch die Forschungsgruppe von Professor Koki Horikoshi, JAMSTEC, Japan, geborgen.
** Die wissenschaftliche Arbeit von L. Gross, F. Mohn, N. Moll, P. Liljeroth und G. Meyer mit dem Titel «The Chemical Structure of a Molecule Resolved by Atomic Force Microscopy» erschien in Science, Vol. 325, Nr. 5944, S. 1110 ? 1114 (28. August 2009).
Die vorliegende wissenschaftliche Arbeit von L. Gross, F. Mohn, N. Moll, G. Meyer, R. Ebel, W. M. Abdel-Mageed and M. Jaspars mit dem Titel «Organic structure determination using atomic-resolution scanning probe microscopy» erschien Online in Nature Chemistry, DOI:10.1038/nchem.765 (1. August 2010).