Von Ad van Tiggelen, Senior Investment Spezialist
ING Investment Management, Den Haag
Demnach sollen sich die volkswirtschaftlichen Realitäten in den nächsten Jahren erheblich von der «alten» Realität vor der Krise unterscheiden. Falls das tatsächlich der Fall ist: Was bedeutet das für Aktienanleger? Wikipedia definiert Normalität als Übereinstimmung mit einem Durchschnittswert oder -niveau. Vor allem professionelle Investoren haben sich dieses Konzept zu eigen gemacht und extrapolieren fortwährend langfristige Durchschnittswerte, um künftige Entwicklungen vorauszusagen. «Langfristig» ist hier der entscheidende Begriff. Dabei kommt es allerdings hin und wieder zu konjunkturellen Trendwenden, die den Wirtschaftsprognostikern den sprichwörtlichen Knüppel zwischen die Beine werfen.
Vom Aufbau der Nachkriegszeit zu Schuldenbergen
Einige dieser Trendwenden waren in den letzten sechzig Jahren besonders ausgeprägt. So drehte sich in den fünfziger und sechziger Jahren alles um den wirtschaftlichen Aufbau der Nachkriegszeit. Sozusagen als Gegenreaktion kam es in den siebziger Jahren dann zu einer Überbetonung der sozialen Komponente. Die Folge war eine eskalierende Lohn-Preis-Spirale, die wiederum eine radikale Trendumkehr auslöste. Die Themen der achtziger und neunziger Jahre waren dann rückläufige Inflation, Globalisierung und Digitalisierung. Die Anlagerenditen explodierten. Entsprechend kam es im letzten Jahrzehnt zu einem Überschiessen in Richtung Kapitalismus. Extrem niedrige Zinsen und zügellose Kreditvergabe der Banken führten zu Blasen am Wohnimmobilienmarkt und gewaltigen Schuldenbergen. Die daraus resultierende Schuldenlast könnte jetzt zu einer neuen Trendumkehr führen, der neuen Normalität.
Schuldenabbau durch Sparen oder Inflation
Die grössten Industrieländer der Welt haben im öffentlichen Sektor und in der Privatwirtschaft mittlerweile Schuldenlasten in Höhe von 300 bis 350 Prozent des BIP angehäuft, mehr als jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Das lässt sich einfach nicht aufrechterhalten. Die Schuldenberge müssen entweder durch gesteigerte Spartätigkeit abgebaut oder durch einen Anstieg der Inflation «aufgezehrt» werden. Bis auf weiteres ist jedoch nicht mit höherer Inflation zu rechnen, daher müssen wir aufs Sparen setzen. Andererseits wird eine höhere Sparquote künftiges Wachstum hemmen; dies gilt ebenso für eine vorsichtigere Kreditvergabe durch Banken. Insofern wird das künftige «normale» Wachstum in den Industrieländern höchstwahrscheinlich auf einem niedrigeren Niveau als früher stattfinden. Die Schwellenländer können dies nur zum Teil wettmachen.
Langsameres Ertragswachstum dürfte Regel werden
In einer von niedriger Inflation und bescheidenem Wachstum geprägten Welt werden sich die Unternehmen (nach einem anfänglichen Aufholeffekt 2010) an ein langsameres Ertragswachstum und Investoren an geringere Anlagerenditen gewöhnen müssen. Damit werden Dividenden wiederum zum wichtigsten Faktor für Aktienerträge. Zwar trugen Dividenden in den letzten dreissig Jahren nicht wesentlich zu den Aktienerträgen bei ? auf längere Sicht, d. h. seit 1900, entfielen allerdings 70 Prozent der gesamten Aktienerträge auf Dividenden!
Erkennen von Wachstumspotenzialen wird schwieriger
Aktienanlegern, für die der Ertrag im Mittelpunkt steht, bietet sich eine breite Auswahl an Qualitätsunternehmen mit auskömmlichen Dividendenrenditen. Für diejenigen, denen vor allem Wachstum wichtig ist, stellt sich die Situation indes komplizierter dar. Emerging Markets und Rohstoffe sind zwei stark miteinander korrelierte Anlageformen, deren hohes Wachstumspotenzial weithin anerkannt ist. Aber das sind Ausnahmen. Vorbei sind die Zeiten, da die gesamte Pharmabranche bzw. der gesamte Technologiesektor durchweg als «Wachstumsindustrien» etikettiert wurden. Das Erkennen überdurchschnittlichen Wachstumspotenzials wird immer aktienspezifischer und damit wohl in erster Linie eine Aufgabe für Fondsmanager mit thematischem Investmentstil.
Fazit: In der «neuen Normalität» werden die Aktienerträge wohl bescheidener ausfallen (im Durchschnitt möglicherweise 7 Prozent pro Jahr). Anleger müssen daher zunehmend zwischen Ertrags- und Wachstumsstrategien differenzieren. (ing/mc/ps)