Rolf Bertschi, Director Technical Research der Credit Suisse, über das Phänomen der Massenpsychologie und die Chancen, Anlageentscheide mit der technischen Analyse zu objektivieren.
von Peter ChristophRolf Bertschi, Director Technical Research Credit Suisse: «Wir erkennen in den Chartformationen Muster und Trends, die sich über Jahre und sogar Jahrzehnte erstrecken. Diese sind unmöglich selbst erfüllend.»
Moneycab: Was ist die Grundidee der technischen Analyse?
Rolf Bertschi: Die Grundidee besteht darin, dass die Börse gewissen Mechanismen unterliegt. Solange es die Zeitachse, die Preisachse und die Anlegerpsychologie als die drei wichtigsten Dimensionen gibt, wird es auch Trends geben. Zwar lässt sich nicht exakt berechnen, wo dieser oder jener Titel zu einem bestimmten Zeitpunkt notieren wird. Aber mit der technischen Analyse ist es möglich, Preisveränderungen aufzuzeichnen und den Trend zu interpretieren. Dabei ist es egal, ob wir uns den Preis von IBM, vom US-Dollar oder vom Erdöl anschauen.
Moneycab: Worauf legen Sie bei der Interpretation das Augenmerk?
Rolf Bertschi: Wir versuchen mit verschiedenen technischen Indikatoren, die Wendepunkte in den Charts zu entdecken. Es ist die Stärke des technischen Analysten, dass er Trends an den Finanzmärkten erkennen kann, bevor diese durch die reale Wirtschaft bestätigt werden. Zudem helfen die Charts dem Anleger, die Stimmung der Masse (Optimismus oder Pessimismus, Euphorie oder Panik) zu überwinden und sich nicht davon anstecken zu lassen.
Moneycab: Die technische Analyse ignoriert also die fundamentalen Wirtschaftsdaten?
Rolf Bertschi: Das ist richtig. Der technische Analyst interessiert sich für das Bild der Preisveränderung; es ist ihm egal, was der Grund der Preisveränderung ist. Wir können eine Aktie analysieren, ohne eine Ahnung zu haben, welches Produkt dieses Unternehmen herstellt. Wer sich nie mit der technischen Analyse befasst hat, kann oft nicht verstehen, dass dies funktioniert. Da aber Preisveränderungen, aus welchen Gründen sie auch immer zustande kommen, nie willkürlich oder zufällig sein können – sonst würde die Börse gar nicht funktionieren und es würde niemand mehr handeln –,können alle Preisveränderungen als solche in ihrer Gesetzmässigkeit analysiert werden. Zudem gilt das Prinzip von Ursache und Wirkung an den Finanzmärkten nur beschränkt und meistens nur kurzfristig. Oftmals ist die Ursache (Nachricht) scheinbar positiv, aber der Preis sinkt oder umgekehrt.
Moneycab: Warum sollte das Prinzip von Ursache und Wirkung an der Börse nicht gelten?
Rolf Bertschi: Weil es Menschen sind, welche die Preisveränderungen machen und diese deshalb nicht zufällig sein können. Die Börse ist das Spiegelbild der Psychologie von Millionen von Menschen. Die Stimmung der Masse verführt die Anleger dazu, im falschen Moment zu kaufen oder zu verkaufen. Wenn die Börse steigt, werden sie optimistisch. Je mehr ein Preis steigt, desto überzeugter sind sie, dass er weiter steigen wird. Dann kaufen sie – und dann beginnt der Preis zu sinken. Niemand versteht, warum. Wenn der Preis weiter sinkt, geraten sie in Panik und verkaufen. Doch dann dreht der Preis und steigt wieder. Anleger tun oft das Falsche, weil sie sich von Emotionen leiten lassen. Mit der technischen Analyse haben wir ein Instrument, um Anlageentscheide zu versachlichen. Es ist ein gutes Mittel, um Emotionen auf Distanz zu halten.
Moneycab: Lassen sich nur unerfahrene Privatanleger von Emotionen steuern?
Rolf Bertschi: Nein, die professionellen Anleger und auch Analysten ebenso. Ich möchte Cisco als Beispiel erwähnen. Diese Firma war im Jahr 2000 so viel wert wie 20 Aktien im Dow-Jones-Index zusammen – also völlig überbewertet und bar jeder Vernunft. Zuerst ging es steil nach oben, am Schluss aber senkrecht nach unten. Im Nachhinein kann niemand mehr verstehen, wie die Anleger auf diesem hohen Niveau kaufen konnten.
«Die Börse ist das Spiegelbild der Psychologie von Millionen von Menschen. Die Stimmung der Masse verführt die Anleger dazu, im falschen Moment zu kaufen oder zu verkaufen.»
Moneycab: Sind die technische Analyse und die Fundamentalanalyse sich konkurrenzierende Methoden, oder kann man sie kombinieren?
Rolf Bertschi: Ich schaue mir auch makroökonomische, also so genannte fundamentale Daten mithilfe der technischen Analyse an. Zum Beispiel Inflations-oder Arbeitslosenzahlen. Diese statistischen Zahlenreihen unterliegen denselben Gesetzmässigkeiten wie die Preisentwicklung der Finanzmärkte. Wenn ich also fundamentale Faktoren technisch analysiere, ist das dann technische oder fundamentale Analyse? Wie auch immer; da unsere Kunden an den Börsen investieren und nicht etwa in die Arbeitslosenrate oder das Bruttosozialprodukt, analysieren wir zuallererst die Finanzmärkte, denn darin liegen Gewinn oder Verlust. Die Wirtschaft hinkt meistens hinterher. Die Anleger werden so weit kommen, die verschiedenen Methoden nicht mehr gegeneinander auszuspielen. In den nächsten Jahren wird die technische Analyse weiter an Bedeutung gewinnen.
Moneycab: Wo stösst die technische Analyse an ihre Grenzen?
Rolf Bertschi: Zum Beispiel bei der Analyse von Aktien, die fast kein Handelsvolumen aufweisen. Ausserdem wird uns manchmal der Vorwurf gemacht, die Charttechnik sei selbst erfüllend – wenn zum Beispiel im Devisenhandel viele Marktteilnehmer einen Widerstandspunkt im Kopf haben und der Kurs wirklich an diesem Punkt dreht. Aber für uns sind nicht die nächsten fünf Handelsminuten interessant, sondern die nächsten Wochen und Monate. Deshalb ist ein solcher kurzfristiger Effekt vernachlässigbar. Wir erkennen in den Chartformationen Muster und Trends, die sich über Jahre und sogar Jahrzehnte erstrecken. Diese sind unmöglich selbst erfüllend.
Moneycab Interviews Gesprächspartner
Rolf Bertschi
Head Technical Research, US Eauities, Bonds, Burrencies,
Credit Suisse, Zürich.