Jan-Egbert Sturm, Leiter KOF ETH Zürich

von Patrick Gunti


Herr Sturm, Konjunkturprognosen haben selber Hochkonjunktur. Wie stark haben die Anfragen an die KOF gegenüber dem Vorjahr zugenommen?

Tatsächlich: In Phasen grösserer Verunsicherung sind Konjunkturanalysen und – prognosen stärker gefragt als sonst. Insbesondere seit September erhalten wir nochmals mehr Anfragen: Praktisch zu jeder neuen Wirtschaftszahl, welche publiziert wird, ist ein Kommentar erwünscht .


Die KOF, das Seco, economiesuisse, die Grossbanken und viele mehr warten in regelmässigen Abständen mit Konjunktur- und anderen Prognosen im Wirtschaftsbereich auf. Gibt es so etwas wie einen Wettkampf zwischen den verschiedenen Instituten um die Genauigkeit der Prognosen?

Einen gewissen Wettbewerb gibt es in der Tat, auch wenn das Ziel, welches wir vor Augen haben, immer das Gleiche ist: Eine objektive und durch die Indikatoren belegte Einschätzung von Gegenwart und Zukunft. Eine Analyse der Prognosequalität ist nur über längere Perioden sinnvoll und kann – wegen des Publikationslags vieler offizieller Statistiken – nur mit deutlicher Verzögerung erfolgen. Dieses technische Problem bedeutet aber gleichzeitig,  dass dieser Wettbewerb nicht immer nur auf die Genauigkeit der Vorhersagen ausgerichtet sein muss. Unsere politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit ist aber Garant dafür, dass ausser der Prognosequalität an der KOF keine anderen Überlegungen eine Rolle spielen.


Wie unterscheiden sich die Untersuchungsmethoden der KOF von denjenigen anderer Stellen?

Unsere Prognosen entstehen durch Einsatz verschiedener ökonometrischer Verfahren und Modelle. Zusammen mit dem Fachwissen unserer Ökonomen sind wir damit in der Lage, nebst den Standardgrössen BIP, Inflation und Arbeitslosigkeit viel detailliertere Aussagen zu machen. Wir sind also viel stärker modell-orientiert, was unsere Objektivität erhöht und die interne Konsistenz der Prognose garantiert. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass wir auf unseren eigenen Umfragedaten zurückgreifen können (siehe unten).


«Platzende Immobilienblasen kennen wir aus der Vergangenheit – auch die Schweiz hat so etwas selber in den Neunzigerjahren durchmachen müssen – die heutige Vertrauenskrise ist aber einmalig und war damit kaum prognostizierbar.»


Die KOF hat zwar frühzeitig vor einem Platzen der Immobilienblase in den USA gewarnt, von den Auswirkungen dürften aber auch Sie überrascht worden sein, oder nicht?

Richtig. Dass sich daraus eine so grosse Vertrauenskrise in der Finanzwelt entwickelt, wurde auch durch uns nicht vorhergesehen. Platzende Immobilienblasen kennen wir aus der Vergangenheit – auch die Schweiz hat so etwas selber in den Neunzigerjahren durchmachen müssen – die heutige Vertrauenskrise ist aber einmalig und war damit kaum prognostizierbar. Natürlich gab es einzelne Personen, die auf gewisse Intransparenzen und falsche Anreizstrukturen in diesem Bereich hingewiesen haben. Dass sich aus diesen Schneebällen aber solch eine Lawine entwickeln könnte, überstieg das Vorstellungsvermögen.


Wie berechnet sich zusammengefasst gesagt das Konjunkturbarometer?

Das KOF Konjunkturbarometer ist ein Sammelindikator aus rund 25 unterschiedlichen Zeitreihen. Diese Indikatoren sind so selektiert, dass sie üblicherweise etwas über die Entwicklung des nächsten Halbjahres aussagen. Die weitaus wichstigste Informationsquelle hierbei sind unsere eigenen Konjunkturumfragen. Wir befragen in regelmässigen Abständen zirka 11’000 Schweizer Unternehmen nach ihrer Geschäftslage und ihren -aussichten. Hiermit stehen wir als KOF am Puls der Wirtschaft.


Wie aussagekräftig ist das Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP)? Gibt es Faktoren, die dabei vernachlässigt oder allenfalls zu stark gewichtet werden?

Eine Antwort auf diese Frage hängt von der Zielsetzung ab. Wenn wir die Wertschöpfung, welche innerhalb unserer Landesgrenzen in einem Jahr entsteht, quantifizieren möchten, gibt es wohl kein besseres Mass als das BIP. Ob damit allerdings auch das Gesamtwohl der Schweizer Bevölkerung gut gemessen wird, ist eine andere Frage. So ist zum Beispiel der Wert der Freizeit in so einem Mass kaum berücksichtigt.


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Wie genau können Prognosen in diesen Zeiten überhaupt sein?

Es ist selbstverständlich so, dass es bei stabilen Rahmenbedingungen einfacher ist, Aussagen über die weitere Entwicklung zu machen, als wenn vieles in Bewegung ist. Das gilt auch für Konjunkturprognosen. Trotzdem, gerade in solchen Zeiten ist es wichtig, Grundlagen für wirtschaftliche Entscheidungen zur Verfügung gestellt zu bekommen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Annahmen, auf denen die Konjunkturprognose aufbaut, klar kommuniziert werden.


Durch welche Umstände kann es zu grösseren Prognoseabweichungen kommen?

Jede Prognose basiert auf Annahmen. Zum Beispiel darauf, wie die Geldpolitik und die Öffentliche Hand auf die jetzige Konjunkturentwicklung reagieren. Ändert sich das Verhalten dieser Akteure gegenüber der Annahme, wird dies unweigerlich zu Prognoseabweichungen führen. Daher sind die Annahmen, welche unterstellt werden, mindestens so wichtig wie die eigentliche Prognose.


Welche Toleranzwerte gehen mit einer Konjunkturprognose einher?

Das ist sehr unterschiedlich und hängt vor allem auch von der Volatilität der Grösse ab, welche prognostiziert wird. Generell sind Arbeitslosenquoten und Inflationsraten mit höherer Genauigkeit zu prognostizieren als z.B. die Wachstumsrate des BIPs.


Inwieweit hat die Globalisierung zu einer schwierigeren Prognostizierung geführt?

In der jetzigen Situation sind wir überrascht von der Geschwindigkeit, mit welcher sich die Weltkonjunktur verlangsamt. Das heisst aber für mich nicht, dass hiermit Wirtschaftprognosen schwieriger geworden wären. Durch die stärkeren Abhängigkeiten sind wir auch in der Lage, wirtschaftliche Zusammenhänge genauer zu messen und für Prognosezwecke zu nutzen.


Die KOF möchte zwischen der Wirtschaftswissenschaft und der Öffentlichkeit Brücken bilden. In allererster Linie nimmt die breite Öffentlichkeit aber von der KOF nur bei den angesprochenen Prognosen Notiz. Ist die umfassende Arbeit der KOF Ihrer Meinung nach genügend bekannt?

Wir bilden mit unserer Arbeit Brücken: Ohne neue Erkenntnisse aus den Wirtschaftswissenschaften wäre es für uns z.B. viel schwieriger Prognosen zu erstellen. Neben unsere Aufgaben in der Konjunkturanalyse führen wir auch Analysen durch, die deutlich stärker auf Aspekte wie die Internationalisierung und die Innovationskraft der Schweizer Wirtschaft eingehen. Obwohl diese Themen für die breite Öffentlichkeit auch interessant wären, werden wir hier weniger stark wahrgenommen – auch wenn wir dort unter den Fachspezialisten bereits seit langem einen festen Platz einnehmen und auch hier als politisch und wirtschaftlich unabhängiges Institut breite Anerkennung haben.


«In der jetzigen Situation sind wir überrascht von der Geschwindigkeit, mit welcher sich die Weltkonjunktur verlangsamt. Das heisst aber für mich nicht, dass hiermit Wirtschaftprognosen schwieriger geworden wären.»


Die Prognose darf natürlich auch an dieser Stelle nicht fehlen: Wie präsentiert sich die Schweizer Konjunktur aus Sicht der KOF aktuell?

Die weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Schweizer Konjunktur sind im Vergleich zur Herbstprognose nochmals markant ungünstiger geworden. Die USA und eine Reihe europäischer Volkswirtschaften befinden sich inzwischen in einer Rezession. Die inländische Konjunktur hatte sich bis im Herbst gegen das zunehmend widrige internationale Umfeld erstaunlich robust gezeigt, kann sich dem Abwärtstrend jetzt aber nicht mehr entziehen. Die Auftragseingänge in der Industrie haben merklich nachgelassen, und der Wert der von der Finanzbranche verwalteten Vermögen ist deutlich zurückgegangen. Für das laufende Jahr hat sich unsere Prognose nur wenig verändert; der Jahreswert für die Wachstumsrate des Bruttoinlandprodukts (BIP) wurde um 0.1 Prozentpunkte (PP) auf 1.8% gesenkt.


Und wie beurteilen Sie die Aussichten für nächstes und übernächstes Jahr?

Die Revision für 2009 ist mit 0,8 Prozentpunkten auf -0.5% deutlicher. Auf den Wachstumspfad zurück findet die Schweiz erst Ende 2009 – die Wachstumsrate für 2010 wird von uns auf 0.6% geschätzt. Die Heftigkeit und Länge des Abschwungs und vor allem die ansteigende Arbeitslosigkeit werden dazu führen, dass der private Konsum eine vorübergehende Schwächephase durchlaufen wird. Sehr viel ungünstiger sind die Aussichten für die Exportnachfrage, da der internationale Konjunktureinbruch nun als erheblich stärker eingeschätzt wird. Diese Entwicklung führt zu einem beachtlichen Rückgang der Ausrüstungsinvestitionen und des Wirtschaftsbaus.


Welchen Einfluss hat dies auf die Arbeitsmarktdaten?

Für den Arbeitsmarkt rechnen wir mit einem mässigen Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 2.8% bzw. 3.5% in den nächsten beiden Jahren, und das Arbeitsvolumen dürfte erst in etwa zwei Jahren wieder eine Zunahme verzeichnen.

Die Gretchenfrage lautet derzeit: Ankurbelung der Wirtschaft durch Konjunkturprogramme oder via Steuersenkungen? Welche Stützungsmassnahmen bevorzugen Sie aus ökonomischer Sicht?


In der jetzige Phase ist es hauptsächlich die Schweizer Exportindustrie, die unter der internationalen Wirtschaftskrise leidet. Fiskalpolitische Massnahmen bringen hier definitorisch nicht viel. Wenn allerdings auch die Binnenkonjunktur stärker getroffen wird, können durchaus Überlegungen zu deren Stützung angestellt werden. Einkommenssteuersenkungen sind aber hierfür nicht sehr geeignet. Ein Grossteil würde in der jetzigen Situation gespart werden und – wenn konsumiert – in einer kleinen offenen Volkswirtschaft wie der Schweiz zu einem guten Teil über die Importe ins Ausland fliessen. Will man mit Steuersenkungen den Konsum ankurbeln, sollte eher eine Senkung der Mehrwertsteuer ins Auge gefasst werden. Eine Erhöhung der Staatsausgaben kann aber gezielter eingesetzt werden; allerdings ist es schwierig, ausserhalb des Baugewerbes anderen Branchen/Sektoren Impulse zu verleihen.


Herr Sturm, herzlichen Dank für das Interview.





Zur Person:
Jan-Egbert Sturm ist seit Oktober 2005 ordentlicher Professor für Angewandte Wirtschaftsforschung am Departement für Management, Technologie und Ökonomie (D-MTEC) der ETH Zürich und gleichzeitig Leiter der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF). 

Jan-Egbert Sturm ist Niederländer und wurde am 9. Juli 1969 in Hoogezand-Sappemeer geboren. An der Rijksuniversiteit Groningen erwarb er 1993 sein Master-Diplom in Quantitativer Volkswirtschaftslehre, promovierte 1997 mit der These «Public Capital Spending: Development and Impact» und bekleidete bis 1998 eine Juniorprofessur an der dortigen Fakultät für Wirtschaftswissenschaften. Mit einer Förderung der NWO (Niederländische Organisation für Wissenschaftliche Forschung) setzte er als Postdoc-Stipendiat zwischen 1998 und 2000 seine Forschung hier fort. Auf Einladung der School of Business hielt der sich im Jahre 2000 als Gastdozent an der Bond University in Australien auf, um danach auf eine Juniorprofessur im Fachbereich für Volkswirtschaftslehre der Fakultät der Wirtschaftswissenschaften in Groningen zurückzukehren. Von 2001 bis 2003 war er Abteilungsleiter des Bereichs Konjunktur und Finanzmärkte am Ifo Institut für Wirtschaftsforschung in München und hatte darüber hinaus eine Professur für Volkswirtschaftlehre, mit Schwerpunkt Makroökonomie und Geldpolitik, am Center for Economic Studies (CES) der Volkswirtschaftlichen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. 2003 wurde er zum Ordinarius für Volkswirtschaftlehre, Lehrstuhl für Monetäre Ökonomik Offener Volkswirtschaften, Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Universität Konstanz (D) berufen und übernahm damit gleichzeitig die Leitung des TWI – Thurgauer Wirtschaftsinstitut an der Universität Konstanz in Kreuzlingen (CH). Zum 1. Oktober 2005 wechselte er als Ordentlicher Professor an die ETH Zürich und wurde Leiter der KOF.


In seiner Forschung stützt sich Jan-Egbert Sturm stark auf empirische Verfahren der Ökonometrie und Statistik, um praxisrelevante Themen insbesondere auf dem Gebiet der Monetären Ökonomik, Makroökonomik und Wirtschaftspolitik zu bearbeiten. In seinen Untersuchungen beschäftigt er sich z. B. mit dem Thema Wirtschaftswachstum oder Politik von Zentralbanken. Er hat mehrere Bücher, Sammelband-Beiträge sowie zahlreiche Aufsätze in international orientierten, referierten Fachzeitschriften veröffentlicht.


Zwischen 2001und 2003 war Jan-Egbert Sturm massgeblich an der Leitung der Forschungsgruppe zur Beurteilung der Wirtschaftslage der sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute Deutschlands beteiligt. Er ist seit 2001 Mitglied des CESifo Research Network, München und seit 2003 Forschungsprofessor am Ifo Institut für Wirtschaftsforschung, München. 2005 wurde er in die European Economic Advisory Group (EEAG) des CESifo berufen.

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