Jürg Krummenacher, Präsident EKFF
von Patrick Gunti
Herr Krummenacher, die EKFF fordert die Einführung einer Elternzeit und eines Elterngelds in der Schweiz. Künftig sollen Eltern über 24 Wochen Elternzeit, die sie sich gemeinsam aufteilen, verfügen können. Welche Verbesserungen könnten damit Ihrer Ansicht nach erreicht werden?
Die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist heute eines der grössten Anliegen vieler Familien. Elternzeit und Elterngeld leisten einen wesentlichen Beitrag, um Beruf und Familie in den ersten Lebensjahren besser unter einen Hut zu bringen. Darüber hinaus hätte die Einführung einer Elternzeit auch viele volkswirtschaftliche Vorteile. Die Erwerbsunterbrüche von Müttern würden verkürzt. Dadurch würden sich auch die beruflichen Perspektiven und Löhne der Frauen verbessern. Die stärkere Erwerbsbeteiligung würde zu einem höheren Erwerbseinkommen der Haushalte und damit auch zu höheren Steuereinnahmen und zu höheren Abgaben an die Sozialversicherungen führen. Wie das Beispiel der skandinavischen Staaten zeigt, weisen Länder mit einer aktiven Familienpolitik in der Regel auch höhere Geburtenraten auf.
Der seit 2005 geltende 14-wöchige Mutterschaftsurlaub würde bestehen bleiben?
Ja.
Wie würden 24 Wochen zwischen den Partnern aufgeteilt?
Das Modell der EKFF sieht eine maximale Bezugsdauer von 24 Wochen vor. Je vier Wochen davon entsprechen einem individuellen Anspruch von Vater oder Mutter. Das heisst, sie können nur von dieser Person bezogen werden. Wie die Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, ist eine solche Regelung wichtig, um eine stärkere Beteiligung der Väter zu bewirken.
Die Bezugsperiode würde gemäss dem EKFF-Vorschlag von der Geburt bis zur Einschulung eines Kindes dauern und soll auch in Teilabschnitten bezogen werden können. Wieso nicht wie beim heutigen Mutterschaftsurlaub die ersten 14 Wochen nach der Geburt am Stück?
Bei der Mutterschaftsentschädigung wollte der Gesetzgeber klar, dass die 14 Wochen nach der Geburt ganz frei von Erwerbsarbeit bleiben. Das macht für diesen Zeitabschnitt auch durchaus Sinn. Bei der Elternzeit soll aber auch ein Bezug in Teilstücken möglich sein. Damit möchte die EKFF eine gewisse Flexibilität ermöglichen. Wir schlagen jedoch vor, dass dies rechtlich nicht durchsetzbar sein soll, das heisst, ein Bezug in Teilabschnitten ist nur im Einverständnis mit dem Arbeitgeber möglich. Ein Bezug in Teilabschnitten ist auch in den meisten Ländern, die eine Elternzeit kennen, üblich.
Was sind die hauptsächlichen familienpolitischen Vorteile des EKFF-Modells?
Aus familienpolitischer Sicht genügen die aktuelle Mutterschaftsentschädigung und der in einzelnen Firmen gewährte Mutterschaftsurlaub nicht, um Familien in den ersten Jahren nach der Geburt eines Kindes genügend zu entlasten. Mit der Geburt eines Kindes übernehmen die Eltern neue Aufgaben und eine grosse Verantwortung. Für die gesunde Entwicklung des Kindes ist die Beziehung zu den Eltern von zentraler Bedeutung. Dafür benötigen die Eltern Zeit. Die zeitliche Belastung der Eltern für bezahlte und unbezahlte Tätigkeit ist in den ersten Lebensjahren eines Kindes mit Abstand am grössten. Die Wochenpensen betragen in dieser Zeit 70 und mehr Stunden. Dazu kommt, dass die Kleinkinderphase in einer beruflichen Zeit liegt, die für den Karriereverlauf entscheidend ist.
«Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist zudem zu einem wichtigen Standortfaktor geworden. Die OECD spricht von einem «Wettbewerb um Talente».» Jürg Krummenacher, Präsident EKFF
Und wo liegt der volkswirtschaftliche Nutzen?
In der Schweiz ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ungenügend. Es sind in erster Linie die Frauen, die den Preis dafür bezahlen. Sie erleben durch ihre Mutterrolle einen Bruch in ihrer Erwerbsbiografie. Bis zur Geburt des ersten Kindes sind die Frauen sehr gut ins Erwerbsleben integriert. Mit der Geburt des ersten Kindes zieht sich der grösste Teil der Frauen (vorübergehend) ganz oder teilweise aus dem Erwerbsleben zurück. Im Alter des jüngsten Kindes bis zu vier Jahren arbeiten rund zwei Drittel mit einem Teilzeitpensum von weniger als 50 Prozent oder sie sind gar nicht erwerbstätig. Der Berufsausstieg, aber auch Minimalpensen, zementieren die Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern und sie verschlechtern die beruflichen Perspektiven der Frauen.
Die Schweiz hat heute sogar in wirtschaftlich schlechten Zeiten Mühe, die Nachfrage nach gut qualifizierten Fachkräften zu decken. Es ist heute unbestritten, dass über eine bessere Arbeitsmarktintegration der Frauen die vorhandenen Humankapitalinvestitionen besser genutzt werden können. Das Potenzial liegt hier eindeutig bei den Müttern. Verschiedene Studien belegen, dass sich mit Elternzeit und Elterngeld die Erwerbsunterbrüche von Müttern verkürzen. Das hätte auch höhere Steuereinnahmen und höhere Beitragsleistungen an die Sozialwerke zur Folge.
Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist zudem zu einem wichtigen Standortfaktor geworden. Die OECD spricht von einem «Wettbewerb um Talente». Immer mehr gut qualifizierte Berufstätige suchen ihren Arbeitsort danach aus, ob sie Familie und Beruf vereinbaren können.
Welche Bezüge oder welchen Einkommensersatz sollen die Eltern in den 24 Wochen erhalten?
Die Einkommensersatzrate beträgt wie bei der Mutterschaftsentschädigung 80 Prozent des Bruttolohns mit einem Plafond nach oben von 196 Franken pro Tag.
Sie gehen in Berechnungen von jährlichen Kosten für das Modell von 1,1 bis 1,2 Mrd. Franken aus, wenn die Aufteilung im Verhältnis von 20 zu 4 Wochen von Mutter zu Vater erfolgt. Wie soll das finanziert werden?
Die Finanzierung könnte wie bei der Mutterschaftsentschädigung über die Erwerbsersatzordnung EO oder über die Mehrwertsteuer erfolgen. Bei der EO hätte dies eine Erhöhung der abzuziehenden Lohnprozente von je 0.2 Prozent für Arbeitgeber und Arbeitnehmende zur Folge. Bei einem Bruttolohn von 5’000 Franken wären das je 10 Franken im Monat. Bei einer Finanzierung über die Mehrwertsteuer müsste der Normalsatz um 0.4 bis 0.5 Prozent angehoben werden. Im internationalen Vergleich ist das Modell der EKFF bescheiden. Die meisten europäischen Länder kennen grosszügigere Regelungen. Bei der Beurteilung der Kostenfolgen ist zudem zu berücksichtigen, dass die Unterstützungsleistungen für die Familien in der Schweiz unter dem europäischen Durchschnitt liegen.
Wieso lanciert die EKFF diesen Vorschlag gerade in Zeiten, in denen die Erwerbsersatzordnung eh schon erhöht wird und generell starke Bemühungen im Gange sind, die verschuldeten Sozialwerke zu sanieren?
Die EKFF befasst sich schon seit einiger Zeit mit diesem Thema. Bereits vor sechs Jahren haben wir eine Publikation mit dem Titel «Zeit für Familien» herausgegeben. Mit dem vorgeschlagenen Modell wollen wir die Diskussion über die Notwendigkeit einer Elternzeit in Gang bringen. Dabei sind wir uns bewusst, dass die Realisierung unseres Vorschlags nicht von heute auf morgen stattfinden wird. Zu beachten ist allerdings, dass es sich bei der Elternzeit nicht einfach um zusätzliche Kosten handelt, sondern um Investitionen in die Familien und die Kinder und damit in die Zukunft unseres Landes. Diese Investitionen zahlen sich in verschiedener Hinsicht aus.
Mitte- und Rechts-Politiker haben wenig überraschend ablehnend reagiert und auch das Gewerbe will von zusätzlichen Kosten für die Wirtschaft nichts wissen. Wie gross ist ihre Hoffnung, mit der Politik einen Konsens zu erreichen?
Wir haben diese Reaktionen erwartet. Viele positive Rückmeldungen und verschiedene Kommentare in den Medien zeigen uns aber auch, dass wir mit dem Thema richtig liegen und die Zeit für eine solche Diskussion reif ist. Dazu kommt, dass es im Kanton Genf bereits einen ausführungsreifen Gesesetzesentwurf für eine Elternzeit in diesem Kanton gibt. An den Eckpfeilern dieses Entwurfs orientiert sich ja auch unser Modell.
Wie wird die EKFF nun weiter vorgehen?
Wir werden in nächster Zeit das Gespräch mit den Sozialpartnern, familienpolitisch engagierten Parlamentarier/innen, den politischen Parteien, familienpolitischen Organisationen und anderen ausserparlamentarischen Kommissionen suchen. Gleichzeitig hoffen wir, dass unser Vorschlag im Parlament aufgegriffen und diskutiert wird.
«Wir haben diese Reaktionen erwartet. Viele positive Rückmeldungen und verschiedene Kommentare in den Medien zeigen uns aber auch, dass wir mit dem Thema richtig liegen und die Zeit für eine solche Diskussion reif ist.»
Im internationalen Vergleich wäre selbst das vorgeschlagene Modell noch bescheiden. Die EKFF zeigt an Beispielen aus Island (Elternurlaub von 9 Monaten, für Mutter und Vater je drei Monate reserviert) und Deutschland (12 Monate Elterngeld und zwei Partnermonate als individuelles Anrecht des anderen Elternteils) auf, wie es auch gehen könnte. Skandinavische Länder verfolgen generell eine aktive Familienpolitik. Wie finanzieren diese Länder diese Lösungen?
Die Finanzierung ist unterschiedlich geregelt. In Schweden wird das Elterngeld aus einer Elternschaftsversicherung bezahlt, die Teil des Sozialversicherungssystems ist. In Deutschlang erfolgt die Finanzierung aus dem Bundeshaushalt.
Haben diese Bemühungen in diesen Ländern um eine Gleichstellung der Geschlechter und eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf auch zu höheren Geburtsraten geführt, und ist die Diskrepanz zwischen Kinderwunsch und der tatsächlichen Anzahl geborener Kinder wirklich kleiner als in der Schweiz?
In der Tat weisen Länder, die eine aktive Familienpolitik betreiben, mit dem Ziel, die Gleichstellung der Geschlechter und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern, in der Regel auch eine höhere Geburtenrate auf als die anderen Länder. Das zahlt sich aus. Mehr Kinder bedeuten auch weniger demografiebedingte Probleme, stabilere Sozialwerke und mehr Innovations- und Zukunftsfähigkeit.
Herr Krummenacher, herzlichen Dank für das Interview.
Die Kommission:
Die Eidgenössische Koordinationskommission für Familienfragen EKFF wurde 1995 als beratendes Organ des Eidg. Departements des Innern eingesetzt. Die Kommission tagt fünfmal jährlich; das Kommissionssekretariat ist der Zentralstelle für Familienfragen im Bundesamt für Sozialversicherung angegliedert. Im Rahmen des allgemeinen gesellschaftspolitischen Diskurses äussert sich die EKFF pointiert zu familienspezifischen Aspekten. Um Schwerpunktthemen zu vertiefen, erteilt sie Aufträge an externe Fachleute und veröffentlicht die Ergebnisse. Die EKFF nimmt Stellung zu Gesetzgebungsvorlagen auf Bundesebene, welche familienspezifische Fragen betreffen. Einmal jährlich veranstaltet sie das «Forum Familienfragen» zu einem ausgewählten Thema. Diese nationale Tagung dient dem Austausch zwischen den Fachleuten von öffentlichen Institutionen, Fachverbänden sowie weiteren interessierten Kreisen.
Zur Person:
Prof. Dr. h.c. Jürg Krummenacher ist seit 1999 Präsident der EKFF. Beruflich ist er als Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern tätig. Jürg Krummenacher ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Aus- und Weiterbildung
-Studium von Psychologie, Sozialpädagogik, Philosophie und Publizistik an der Universität Zürich. Lizentiat.
-General-Management-Ausbildung am Wirtschaftswissenschaftlichen Zentrum der Universität Basel.
Praxistätigkeit
1978 – 1979
Wissenschaftliche Mitarbeit am Lehrstuhl für Arbeits- und Betriebspsychologie der ETH Zürich
1979 – 1985
Schul- und Heimpsychologe im Kanton Luzern
1985 – 1991
Psychologiedozent und ab 1987 Rektor der Höheren Fachschule für Sozialarbeit Luzern
1991 – 2008
Direktor von Caritas Schweiz
2008 – 2009
Senior Consultant und Mitglied der Geschäftsleitung bei BHP – Brugger und Partner AG in Zürich
Oktober 2009 ? heute
Leiter des Interdisziplinären Schwerpunkts «Gesellschaftliche Sicherheit und Sozialversicherungen» sowie Dozent und Projektleiter an der Hochschule Luzern – Wirtschaft
Langjährige und vielfältige Mitarbeit in nationalen und internationalen Kommissionen sowie in Organen von Vereinen und Stiftungen