«Electric Blue» heisst die neue, von Adrian Paci speziell für die Ausstellung im Kunsthaus Zürich geschaffene Video-Arbeit. Der Titel leitet sich von der gleichnamigen Erotik-Serie im ehemaligen jugoslawischen Fernsehen ab, die zu Zeiten des Kommunismus eine der wenigen Unterhaltungssendungen war. Das in Zusammenarbeit mit dem Kunsthaus Graz produzierte Werk ist in Pacis Heimatstadt Shkodër (Albanien) angesiedelt. Dort hatte der Künstler bereits «Turn on» gedreht, ein Video, das 2005 an der Biennale von Venedig gezeigt wurde und das den internationalen Durchbruch Adrian Pacis markierte.
EINDRINGLICHE BILDER FÜR DIE «CONDITION HUMAINE»
In «Electric Blue» erzählt Paci die Geschichte eines Mannes, der im chaotischen Albanien der 1990er Jahre, als der Staat kollabierte, versucht, das ökonomische Überleben für sich und seine Familie zu sichern. Doch ist das ca. 15 Minuten lange Video weit mehr als ein zeithistorisches Dokument. Es thematisiert existentielle Fragen des Menschseins, handelt vom Scheitern und den Auswirkungen von Krieg und gesellschaftlichen Umbrüchen auf den Menschen, von der Sehnsucht, nicht mehr länger arm zu sein, von Liebe, Sex und Leidenschaft. Dem Künstler gelingt es, mit dem Video eindrückliche und zeitlose Bildfindungen für die «Condition humaine» zu schaffen, die sich im Gedächtnis einprägen.
Pasolinis Gedanken auf die Leinwand gebracht
Adrian Paci (geboren 1969 in Shkodër, Albanien) wurde ursprünglich zum Maler ausgebildet. Kuratorin Mirjam Varadinis hat für seine erste Einzelausstellung in einem Schweizer Museum deshalb auch die ganz neue malerische Arbeit «Secondo Pasolini» (2010) ausgewählt, die das Medium Film in Malerei überführt. Für das grossformatige Werk hat Paci den berühmten Film «I racconti di Canterbury» (1972) von Pier Paolo Pasolini sozusagen demontiert, indem er einzelne Frames rausgelöst und abgemalt hat. Dieser Schwebezustand zwischen bewegtem Bild und Standbild und zwischen Film und Malerei ist kennzeichnend für Pacis Werk. Bereits früher hatte der Künstler ähnliche Arbeiten gemacht und sich dabei auf Pier Paolo Pasolini bezogen. Dass dem berühmten Regisseur eine zentrale Rolle in Pacis Auseinandersetzung mit Malerei und Film zukommt, liegt nahe. Oft hatte dieser für seine Filme Zitate von Gemälden der italienischen Renaissance verwendet.
Wenn Video bessere Malerei ist
Mit der Geschichte der Malerei eng verbunden ist eine zweite in der Ausstellung zu sehende Video-Arbeit. Sie trägt den Titel «Britma» (2009). «Britma» heisst «Schrei» und verweist auf Edvard Munchs berühmte malerische Ikone. In Pacis Video sieht der Betrachter zwei Kinder in offensichtlicher Aufregung. Das eine Kind scheint zu schreien. Es hält einen Stein, bereit zum Wurf, in der Hand. Doch die Unschärfe der Aufnahme verunmöglicht eine genauere Einordnung. Ist es eines dieser vielen Bilder aus einem Krisengebiet, wo Kinder Soldaten mit Steinen bewerfen? Oder sind die beiden Kinder ganz einfach am Spielen? Paci lässt die Antwort offen. In extremer Zeitlupe verändert sich das Bild fast unmerklich. Nur wer ganz genau hinsieht, merkt, dass mit der Zeit die Unschärfe stetig zunimmt und sich das Gesicht des einen Kindes immer mehr an Munchs «Schrei» annähert ? bis es sich schliesslich in eine völlig abstrakte Farblandschaft aus digitalen Pinselstrichen aufgelöst hat.
Neben dieser ganz neuen Arbeit werden in der Ausstellung auch Adrian Pacis frühestes Video «Albanian Stories» (1997) sowie die 4-teilige Video-Installation «The Last Gestures» (2009) zu sehen sein. «The Last Gestures» hält in ebenfalls sehr malerischer Weise die letzten Momente des Abschieds einer Braut von ihrer Familie fest ? ein Ritual, das in Albanien fest verankert ist. Doch Paci interessiert sich hier nicht so sehr für die Darstellung einer Realität in seinem Heimatland als vielmehr für den rituellen Charakter der Gesten.
Künstlergespräch
Adrian Pacis Werke sind von einem existentiellen Unterton durchzogen. In einem Gespräch mit Mirjam Varadinis am Sonntag, 13. Juni um 12.15 Uhr im Kunsthaus wird Paci über seine künstlerische Praxis reden und zusätzliche Arbeiten präsentieren. Ein zur Ausstellung erscheinendes kleines Katalogbuch gibt zudem Einblick in die Hintergründe und die Entstehung des neuen Videos «Electric Blue». Die magazinartige Publikation in Englisch und Deutsch erscheint beim Kehrer Verlag, Heidelberg und umfasst 60 Seiten. Es enthält ein Interview mit dem Künstler und ist für nur CHF 18.- im Kunsthaus-Shop erhältlich.