Kunstmuseum Liechtenstein: Auszeit. Kunst und Nachhaltigkeit

Seit der Industrialisierung im 18. Jahrhundert erleben die westlichen Gesellschaften einen sich stetig beschleunigenden Lebensrhythmus, sowohl die Gesellschaften als ganze wie auch die einzelnen Menschen. Mit der Einführung des Computers, dem Internet und der Globalisierung von Wirtschaft, Medien und Politik hat dieser Prozess eine erhebliche Intensivierung erfahren, die in wachsendem Masse die Menschen zu überfordern scheint: steigende Zahlen psychischer Erkrankungen, verbunden mit neuen Krankheitsbildern, steigende Selbstmordraten, wachsende Frühinvalidität sind nur wenige radikale Symptome der Auswirkungen dieser Entwicklung.


Kulturell lässt sich ein Verblassen des Bewusstseins von der Bedeutung der Geschichte erkennen, wesentlich durch die simultane Präsenz des Welt- und des lokalen Geschehens in den Medien befördert.


Die Gesellschaftstheorie hat lange diese Entwicklung beklagt und den Untergang des Humanen in der globalisierten Welt heraufbeschworen. Doch wurden in den vergangenen zwei Jahrzehnten auch Weltbilder entwickelt und Bewegungen gegründet, die vor der wachsenden Beschleunigung aller Lebensbereiche warnen und alternative Modelle entwickeln. Slow Food, Slow City, Slow Medicine, Slow Sex u.a. finden wachsenden Zulauf in allen Kulturräumen der Erde. Seit kurzem haben darüber hinaus Wirtschaft und Politik die Notwendigkeit einer nachhaltigen Entwicklung erkannt und erarbeiten entsprechende Strategien.


Kimsooja
Kimsooja Mandala (2003), Einkanaltoninstallation (tibetanischer Gesang), Jukebox, Jukeboxlautsprecher, CD, CD-Spieler Endlosschleife (9 min. 50 sec.)


Die gefeierte Ästhetik des Schnellen im neuen Licht gesehen
Künstlerinnen und Künstler haben zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Beschleunigung des Lebens sowohl gefeiert wie auch Gegenbilder dazu entwickelt. So verherrlichten die italienischen Futuristen die Geschwindigkeit an sich und entwickelten aus ihr eine eigene Ästhetik. Konstruktivisten und andere Modernisten feierten die Industriegesellschaft als Trägerin der Demokratie bzw. der revolutionären Potenziale für das Ziel einer idealen Gesellschaftsform.


Der breite Reichtum der inneren Welt
Surrealisten und andere künstlerische Bewegungen wandten sich hingegen von diesen Feldern ab, beschworen den Reichtum der inneren Welt der Menschen und gaben ihm breiten Raum in ihren Kunstwerken. Seit den späten 1960er Jahren lässt sich jedoch beobachten, dass verschiedene Künstlerinnen und Künstler dem nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erneut erfolgenden Beschleunigungsschub der westlichen Gesellschaften, der in der Raumfahrt und den Expeditionen zum Mond gipfelte, zunehmend skeptisch gegenüber standen. Vertreter der Arte Povera, der Konzeptkunst und anderer Gruppierungen thematisierten immer wieder die Verluste, die mit der stetigen Beschleunigung des Lebens einhergehen. Der Begriff der Geschichte, die Auswirkungen der Zivilisation auf die Umwelt, der soziale Zusammenhalt – ja, auch die Grundlagen unseres Verhältnisses zur Welt, etwa das Gefühl für Zeit, kamen auf den Prüfstand. Die junge Generation der Künstlerinnen und Künstler baut auf den in den 1970er Jahren erarbeiteten Grundlagen auf und treibt sie seit etwa 1990 auf einer pragmatischeren, zwischen den Polen des politischem Engagements und des Rückzugs in das Private und Intime agierenden Ebene weiter. Dabei spielt die Entschleunigung eine katalytische Rolle für die Perspektive der Nachhaltigkeit.


Der Dialog zwischen den Werken stellt die Frage der Nachhaltigkeit gezielt
Die Ausstellung «Auszeit. Kunst und Nachhaltigkeit» widmet sich den verschiedenen Themenkreisen, in denen sich die künstlerische Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit manifestiert. Dabei treten Positionen der Zeit um 1970 mit jenen jüngerer Künstlerinnen und Künstler in einen Dialog miteinander. Für die Auswahl der Werke sind dabei die inhaltlichen Aspekte, die dazu führen können, dass Gemeinsamkeiten tu Tage treten, die auf einer formalen und kunsttheoretischen Ebene nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. In der mit Bedacht gewählten Nachbarschaft zu Werken unterschiedlicher kultureller, technologischer und formaler Herkunft lässt sich der jeweilige Bezug zur Nachhaltigkeit erkennen.


Die kritische Revision des Begriffs der Entschleunigung
Eine Beschäftigung mit dem Phänomen der Nachhaltigkeit kommt nicht umhin, sich mit verschiedenen Aspekten der Moderne auseinender zu setzen. Dabei ist der Aspekt der Beschleunigung aller Lebensbereiche von besonderer, weil ambivalenter Bedeutung. Deshalb wird in vielen künstlerischen Ansätzen die Beschleunigung einer kritischen Revision unterzogen, wozu in erster Linie die Auseinandersetzung mit vormoderner Tradition sowie mit der spezifischen Tradition der Moderne selbst gehört. So thematisiert die junge afghanische Künstlerin Lida Abdul in ihrer Videoarbeit «What we saw awaking» (2006) den inneren Konflikt, der mit der Überwindung einer alles beherrschenden Tradition verbunden ist. Clemens von Wedemeyer und Maya Schneider dagegen interessiert in ihrer Video-Installation «Metropolis» (2006), wie sich eine im gleichnamigen Film von Fritz Lang aus den 1920er Jahren formulierte Utopie angesichts einer hypermodernen Metropole wie Schanghai heute als Dokumentation ihrer Verwirklichung darstellen lässt. Matt Mullican wiederum verbindet seine Entwürfe urbanistischer Organisation gesellschaftlichen Lebens mit kosmologischen Fragestellungen, und Thom Barth bringt die Hybridität und Willkürlichkeit denkmalschützerischer Programme wie des UNESCO-Weltkulturerbes zur Anschauung. Den zeitgenössischen Transformationen von Geschichtsbildung dagegen widmen sich Laura Horelli sowie Lia Perjovschi, die für die Ausstellung die neue Installation «The Knowledge Museum» realisiert.


Industrialisierung, Beschleunigung und Effizienzsteigerung haben tiefgreifend das Verhältnis der Moderne zur Umwelt und zur Natur allgemein verändert. Schon die Künstler der Arte Povera haben in den Sechziger Jahren auf den Verlust des Bewusstseins von der Eigengesetzlichkeit der Natur hingewiesen.


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So thematisierte etwa Giovanni Anselmo in zahlreichen Arbeiten die Langfristigkeit der Prozesse in der Natur, während Piero Gilardi in einer Forcierung moderner Produktionstechniken eine Mimesis landschaftlicher Ensembles betrieb. Langfristigkeit als Basis einer substanziellen Identität des Menschen als Erdbewohner ist auch Thema der Arbeiten von Gloria Friedmann, einerseits hinweisend auf die Leben spendende Kraft der Erde, andererseits die Risiken der durch den Menschen geschaffenen Zivilisation für diese Rolle der Erde aufzeigend. Jan Jedlicka wiederum hat in seinem Projekt «Il cerchio. Maremma 2005-2006» eine jahrzehntelange Beschäftigung mit der einer italienischen Landschaft zu einem eindringlichen Einblick in ihre Veränderungen aus jahreszeitlicher und global meteorologischer Sicht komprimiert. Henrik Håkansson, Thomas Feuerstein und Dan Peterman widmen sich ihrerseits aus unterschiedlicher Perspektive Fragen des ökologischen Gleichgewichts in biologischer, wirtschaftlicher und sozialtheoretischer Perspektive.


Das individuelle Verhältnis zur Welt und ihren Ordnungsmustern war ein zentrales Thema der Konzeptkunst seit den Sechziger Jahren. On Kawara etwa thematisierte den Zusammenhang von Zeitstruktur und individueller Lebenszeit in seinen «Date Paintings», und Michael Buthe entwarf in seinen Arbeiten das utopische Panorama einer idealen, an den kulturellen Traditionen Marokkos orientierten Lebensform der Schönheit. Jüngere Künstlerinnen und Künstler nähern sich diesem Komplex aus sehr unterschiedlicher Perspektive, indem sie wie Kerstin Kartscher ihre eigene Sicht auf die Welt veranschaulichen, Moderne und Tradition sowie unterschiedliche Kulturräume aufeinander beziehen wie Sooja Kim oder die seelischen Herausforderungen bürokratischer Strukturen für das individuelle Selbstverständnis thematisieren, wie Clemens von Wedemeyer in seiner Videoinstallation «Otjesd» (2005). (kml/mc/th)



Piero Gilardi, Albero Bianco, 2005, Polyurethan, Farbe, Plexiglas, 150 x 120 cm


 








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