Kunstmuseum Luzern: Franz Eberhard Walther Gesang der Schreitsockel
Der 1939 im deutschen Fulda geborene Franz Erhard Walther gehört zu den bedeutendsten Gegenwartskünstlern. In dem auf Intervention mit dem Publikum angelegten Werk «Gesang der Schreitsockel» manifestieren sich die wesentlichen Gedanken seines künstlerischen Schaffens. Ausgebildet an der Düsseldorfer Kunstakademie, lotet Walther bereits in seiner ersten wegweisenden Arbeit, dem zwischen 1963 und 1969 entstandenen «1. Werksatz», die Grenzen des tradierten Kunstverständnisses aus. Die 58 Objekte aus Baumwollstoff, die er unter anderem auf der documenta 5 1972 in Kassel zeigt, fordern den Betrachter, die Betrachterin auf, verschiedene Handlungen zu vollziehen: sich hineinzulegen, durch sie hindurch zu kriechen. Durch diesen körperlichen Akt wird der passive Betrachter zum aktiven Rezipienten, die von ihm ausgeführte ‹Werkhandlung› zum genuinen Bestandteil der künstlerischen Arbeit. Seit den 1970er Jahren erfahren die Handlungsmöglichkeiten in Walthers Arbeiten eine Modifizierung. Die installative Anordnung von Bahnen aus Stoff, Holz oder Eisen forciert die blosse Imagination einer Handlung, das Abschreiten der Elemente kann auch in gedanklicher Form geschehen. Sowohl die real vollzogene, als auch die vorgestellte ‹Werkhandlung› vermögen letztlich den klar umgrenzten Werkbegriff aufzulösen; der Künstler agiert nicht länger als genieähnlicher Schöpfer. «Die Verantwortung» ? so Walther ? «für das was bei der Objektbenutzung an Kunst entsteht, trägt letztlich jeder Handelnde selbst». Mit dem Konzept des sogenannten ‹erweiterten Werkbegriffs› gelingt Walther ein eigentlicher Paradigmenwechsel in der bildenden Kunst und ein Bruch mit dem Kunstverständnis der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
55 mal Schlammgrün
Die vom Kunstmuseum Luzern 1992 angekaufte und nun neu präsentierte Installation «Gesang der Schreitsockel» besteht aus 55 mit schlammgrünem Baumwollstoff überzogenen Holzelementen, die bis zu 5 Meter lang sind und als Bauelemente der in ihrer Form und Grösse variablen künstlerischen Arbeit fungieren. In der in Luzern erstmals gezeigten variablen Auslegung dieser Elemente wird das reale Abschreiten oder Begehen der «Schreitsockel» ebenso impliziert wie die visuelle Vorstellung einer solchen Werkhandlung. Neben dieser handlungsbezogenen Auslegung wird der «Gesang der Schreitsockel» auch in der gestapelten, gelagerten Anordnung gezeigt. Dieses von Walther entworfene Konzept der ‹Lagerform› verleiht der künstlerischen Arbeit eine weitere Ebene und vermag neben der variablen Auslegung als eigenständiger künstlerischer Werkstatus zu bestehen. Die zur Installation gehörenden 70 Werkzeichnungen visualisieren einerseits die verschiedenen Handlungs- und Werkbildungsprozesse der «Schreitsockel», funktionieren aber andererseits durch ihren ästhetischen Ausdruck auch als autonomes Kunstwerk. Anlässlich von drei öffentlich stattfindenden Werkveränderungen und Werkhandlungen haben die Besucherinnen und Besucher erstmals die Möglichkeit, am Kerngedanken des Werkes aktiv teilzuhaben und es nach Vorgabe des Künstlers neu auszulegen und zu begehen. Durch diese Aufforderung zur Partizipation und die unmittelbare Gegenüberstellung der zwei Werkzustände der variablen Anordnung und der ‹Lagerform› werden die verschiedenen Handlungsebenen der Arbeit im Rahmen der Ausstellung zur Diskussion gestellt. (kl/mc/th)