Kunstmuseum St.Gallen: Phantasien – Topographien

Seit den frühen 1960er Jahren konsequent und kenntnisreich aufgebaut, umspannt die Ausstellung den Zeitraum von etwa 1530 bis 1680. Es öffnet sich in der Ausstellung ein wunderbares Panorama niederländischer Landschaftskunst aus Renaissance und Barock.


Schon früh hatten die Niederlande als Hochburg der Landschaftsmalerei gegolten. Und schon früh fiel das besondere Verhältnis dieser Bilder zur sichtbaren Wirklichkeit auf. In einem häufig zitierten Dialog soll der grosse Michelangelo moniert haben, in Flandern male man mit einem Blick für äusserliche Genauigkeit, aber ohne Vernunft und Proportion, ohne entschiedene Auswahl und ohne Kühnheit des Entwurfes. Die Aufzählung gegenständlicher Einzelheiten, die der irritierte Meister der Hochrenaissance vorbrachte, lässt vermuten, dass er sich auf die detailreichen, weiten Gebirgslandschaften der flämischen Schule bezog.


Rembrandt Harmensz. van Rijn, Die Windmühle, 1641, Radierung

Rembrandt Harmensz. van Rijn, Die Windmühle, 1641, Radierung

Solche Werke bilden den Auftakt der Ausstellung. Der Blick geht zuerst nach Antwerpen, in die südliche Metropole, und zeigt die Voraussetzungen der künstlerischen Revolution, die gut 50 Jahre später in den holländischen Nordprovinzen stattfinden sollte. Auf die imaginären, weiträumigen «Weltlandschaften» mit biblischen Szenen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts folgen der Pionier der «realistischen» Landschaft, Pieter Bruegel d.Ä. (um 1525?1569), und Hans Bol (1534?1593) mit spektakulären Radierungen von Gebirgs- und Dorfansichten. Letztere sind auch das Thema des anonymen, aber höchst einflussreichen «Meisters der kleinen Landschaften» und seiner naturnahen ländlichen Alltagsszenerien.


In  der niederländischen Kultur setzte nach 1600 ein tiefgreifender Wandel ein. Die Abspaltung der nördlichen, calvinistischen Gebiete (die heutigen Niederlande) von den katholisch-habsburgischen Südprovinzen (das heutige Belgien) fand ihre Parallele in einer neuen Wirklichkeitsauffassung der aufblühenden holländischen Malerei. Es waren Zeichner und Kupferstecher im Norden, die sich als erste von den aus Flandern importierten Phantasie-Landschaften zu lösen begannen. Sie wandten sich Motiven der eigenen Umgebung zu: «naer?t leven» (nach dem Leben) wurde zum obersten Prinzip des neuen, naturnahen Stils.


Im Zentrum steht die entscheidende Phase des Umbruchs, die mit einer einzigartigen, im aufstrebenden holländischen Kunstzentrum Haarlem um 1615 entstandenen Werkreihe dokumentiert werden kann. Neben den Landschaftsfolgen von Jan van de Velde II (1593?1641) ist der berühmte Esaias van de Velde (1587?1630) mit bahnbrechenden frühen Zeichnungen und Radierungen vertreten. Konfrontiert mit dem gleichzeitigen Bildpaar «Sommer» und «Winter» aus der Sammlung des Kunstmuseums, belegen exakte Schilderungen unscheinbarer ländlicher Schauplätze beispielhaft die Übertragung der in der Graphik erarbeiteten neuen Lösungen in die Malerei: Die typisch holländische Flachlandschaft mit ihrem tiefen Horizont und hohen Himmel, unter dem sich auf Viehweiden und Feldwegen neben Bauernhütten alltägliches Leben abspielt, ist bildwürdig geworden.


Seit den späten 1620er Jahren schufen die Künstler der sogenannten tonalen Phase eine regelrechte Topographie ihrer holländischen Heimat im Wechsel der atmosphärischen Bedingungen von Zeit, Wind und Wetter. Eine Reihe locker ausgeführter Kreidezeichnungen mit Fluss- und Dorfansichten des ungemein produktiven Jan van Goyen (1596?1656) ist dafür ebenso repräsentativ wie die Gruppe der Zeichnungen seines Zeitgenossen Pieter Molyn (1595?1661), welche die pittoresken Motive der Dünenlandschaft ausloten.


Bedeutende Landschaftsradierungen Rembrandts (1606?1669) schliessen hier an, und bildhaft ausgearbeitete Blätter seiner Nachfolger Johannes Ruischer (um 1625 ? um 1675) und Lambert Doomer (1624?1700) vertreten die typisch holländische Gattung der Panoramalandschaft.


Die Sehnsucht nach der Ferne verkörpern die südlichen Ideallandschaften der «Italianisanten», so der legendäre «Diamant» von Claes Berchem (1621/22?1683). Das nordische Pendant dazu bilden felsige Waldlandschaften mit Wasserfällen, Motive, die Allaert van Everdingen (1621?1675) von seiner Skandinavienreise nach Holland mitgebracht hat. Die nahsichtigen Baumszenerien von Jacob van Ruisdael (1628/29?1682) schliesslich setzten den Schlusspunkt, zusammen mit eindrücklichen topographischen Gebäudeansichten des Zeichners Antoni Waterloo (1609?1690). (kmsg/mc/th)

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