Kunstmuseum St.Gallen: Trotzwurzeln lesen Kartenluft

St.Galler Kunst der 1970er Jahre zwischen Ausbruch und Isolation:   


Hauensteins Radierungen entstehen in den 1970er Jahren, als die Kunstszene der Ostschweiz sich zwischen Internationalismus und Regionalismus zu positionieren hat. Der widersprüchlich und absurd klingende Titel vereint körperlich-widerborstiges mit einem Anflug von überraschender Leichtigkeit. Reisen in die Welt der eigenen Phantasie zeichnen das umfangreiche graphische Oeuvre Rolf Hauensteins aus, in denen sich persönliche Erlebnisse und Erinnerungen, literarische Texte und alltägliche Bilder zu «zeichnerischen» Gespinsten verdichten. Zugleich erscheinen diese Fluchtbewegungen nach Innen wie Aussen symptomatisch für die lokale Künstlerszene: In einer Art Befreiungsschlag machen sich die Künstler auf, die Erdenschwere, d.h. im übertragenen Sinne auch die Beschränkungen der regionalen Kulturszene, zu überwinden. Bernard Tagwerker (*1942 in Speicher) sucht die Flucht in Form von Metaphern in Zeichnungen und Objektkästen zum Säntis, dem Wahrzeichen der Ostschweiz, und zum Flugpionier A.L. Berblinger, dem berühmten Schneider von Ulm. Das Sich-Erheben über die Niederungen menschlicher Existenz verbindet sich bei letzterem mit der Figur des Phantasten, der das Unmögliche zu denken wagt. Fluchtwege bieten indes auch Studienaufenthalte im Ausland, so geht Hans Schweizer (*1942 in Herisau) nach Kanada, wo er sachlich-präzise Gegenstände des alltäglichen Lebens zeichnerisch festhält. Damit verabschiedet sich Hans Schweizer dezidiert von den Ansprüchen einer sich dem Ende zuneigenden Moderne. Gegenstände des alltäglichen Lebens wie Telefon und Bügeleisen in eine neutrale Fläche gesetzt, bilden das neue bildnerische Vokabular und lassen den Künstler die Grenze zwischen Pop Art und Fotorealismus begehen: sachlich, präzis, ohne Emphase – Bilder, die alles Narrative abgelegt haben, verweisen in ihrer betonten Bedeutungslosigkeit auf das Alltägliche.


Rolf Hauenstein, Ohne Titel, 1978

1970 wird das Kunstmuseum St.Gallen geschlossen – wegen Baufälligkeit

Die Folgen der Museumsschliessung sind vor allem für die lokale Künstlerszene spürbar. Ihr fehlt in jenen Jahren die entscheidende Vermittlungsplattform. Umso mehr erstaunt es, dass einige Ostschweizer Kunstschaffende auf sich aufmerksam machen. Vier von ihnen vereint die Ausstellung «Trotzwurzeln lesen Kartenluft – St.Galler Kunst der 1970er Jahre zwischen Ausbruch und Isolation»: Rolf Hauenstein, Hans Schweizer, Roman Signer und Bernard Tagwerker. Sie bilden keine geschlossene Künstlergruppe mit gemeinsamer ästhetischer Ausrichtung, haben mit Ausnahme von Bernard Tagwerker und Roman Signer (*1938 in Appenzell) auch nie künstlerisch zusammengearbeitet. Doch sind sie alle in den Jahren in St.Gallen tätig bzw. leben hier. Vor allem aber beleben sie die alteingesessene lokale Künstlerschaft mit neuer Dynamik, indem sie sich gegen tradierte Vorstellungen auflehnen und von den «Phantasmen» einer zu Ende gehenden Moderne zu lösen beginnen. Es entstehen durchaus bemerkenswerte Beiträge zur Schweizer Kunst der 1970er Jahre, die zum vergessen, in der aktuellen Ausstellung im Kunstmuseum St.Gallen teilweise erstmals präsentiert werden. Mit der Gemeinschaftsarbeit von Roman Signer und Bernard Tagwerker wird in der Ostschweiz zudem eine der spektakulärsten Projekte dieser Zeit realisiert.


Die Raum-Zeit-Skulptur


«Bodensee und Säntis» gilt als die kongenialste Zusammenarbeit von Roman Signer und Bernard Tagwerker. Am 7. Juni 1975 lassen die beiden Künstler 56 mit Nylonseilen an Bojen befestigte Ballone mit einem Durchmesser von je 150 cm über der Bucht von Arbon aufsteigen. Zusammen bilden die Ballone die Silhouette des Säntis über dem Bodensee nach. Säntis und Bodensee, die beiden geographischen Wahrzeichen der Region, werden so für kurze Zeit zu einer Raum-Zeit-Skulptur, zu einem Moment-Monument verbunden. Die in ihrer Erscheinung ausserordentlich zeichenhafte Arbeit nimmt Bezug auf den konkreten Lebensraum der Künstler – beide stammen aus dem Appenzellischen und leben in St.Gallen. Sie sprengt jedoch in ihren raum-zeitlichen Dimensionen das bisher in der Schweizer Kunst Gewohnte. Die aufsehenerregende Arbeit, ein zentraler Beitrag zum Schweizer Kunstschaffen, nimmt Mass an der Prozesskunst der späten sechziger Jahre sowie an den raumgreifenden Land Art-Projekten, die Künstler wie Michel Heizer (*1944) realisierten. Die eindrückliche Aktion kann als ein sichtbares Zeichen der Bewegung verstanden werden, die die St.Galler Kunstszene der 1970er Jahre ergreift.

Bereits 1971/72 erarbeitet Roman Signer während eines Studienaufenthalts in Warschau mit einem seiner frühesten Werke, dem «Projekte für einen Platz in Warschau I und II» für den Platz vor dem Kultur- und Wissenschaftspalast der Stadt, die formalen wie inhaltlichen Grundlagen seines gesamten künstlerischen Oeuvres. Dabei handelt es sich um eine nie realisierte kinetische Installation mit Ballonen, für deren «Funktionieren» letztlich die Kräfte der Natur die entscheidende Rolle übernehmen. Je nach Witterungseinflüssen ist die Platzgestaltung ständigen Veränderungen unterworfen. Signer verabschiedet sich bereits in einem seiner frühesten Projekte radikal von der traditionellen Vorstellung der Skulptur als statisch und dauerhaft. Der heute international renommierte Künstler definiert damit letztlich Transformations- und Veränderungsprozesse als skulpturale Vorgänge.


«Trotzwurzeln lesen Kartenluft» ist der erste Teil einer Ausstellungsreihe im Kunstmuseum St.Gallen, die sich ausgewählten Sammlungsschwerpunkten widmet. (kmsg/mc/th)

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