Von Helmuth Fuchs
Moneycab: Herr Huwiler, in der Top500-Studie von Accenture wurde festgestellt, dass die Schweizer Unternehmen zwar finanziell sehr gut dastehen, in den Bereichen Lieferketten und Technologie jedoch hinter den europäischen und amerikanischen Konkurrenten liegen. Was sind die Gründe, dass Schweizer Unternehmen weniger in Themen wie digitale Transformation oder künstliche Intelligenz investieren, und wie wirkt sich das auf die Wettbewerbsfähigkeit aus?
Marco Huwiler: In der Schweiz setzen zu viele Unternehmen auf einzelne digitale Initiativen, die zwar schön im Jahresbericht aussehen, aber keine nennenswerten Ergebnisse bringen. Mit anderen Worten: Viele der hiesigen Unternehmen geben zwar in einzelnen Bereichen viel Geld für die Digitalisierung aus, doch sie nutzen Technologie nicht, um ihr Geschäftsmodell komplett neu zu denken.
«Oft fehlt es in den Unternehmen an einer übergreifenden Strategie, um die digitale Transformation voranzutreiben.» Marco Huwiler, Country Lead Accenture Schweiz
Mit diesem Ansatz erreichen sie die erhofften Wettbewerbsvorteile nicht. Oft fehlt es in den Unternehmen an einer übergreifenden Strategie, um die digitale Transformation voranzutreiben. Eine solche Digitalstrategie muss einer klaren Vision folgen, die nicht nur von den Führungskräften, sondern von allen im Unternehmen geteilt wird. Und sie sollte nicht nur definieren, welche Technologien es braucht, um neue Produkte und Dienste für Kunden anzubieten. Sie muss auch die Frage beantworten, wie digitale Kompetenzen in der eigenen Belegschaft gefördert werden, welche Art von Talenten es zukünftig braucht, und wie interne Prozesse mit Hilfe neuer Technologien verbessert werden können.
Welche Unterschiede gibt es beim Einsatz von neuen Technologien in verschiedenen Branchen?
Wenn Sie mich fragen: keine. Im Detail mag es Unterschiede geben, aber die grossen Transformationen unterscheiden sich kaum von Branche zu Branche. Und damit sind auch die technologischen Ansätze sehr ähnlich. Ein Unternehmen kann heute nur wettbewerbsfähig sein, wenn es alle Prozesse und Produkte rund um seinen digitalen Kern – also Daten und Anwendungen in der Cloud – aufbaut. Das ist die Grundlage, um neue Nutzererlebnisse zu schaffen, datenbasierte Services anzubieten, gemeinsam mit Partnern unabhängig vom Standort zusammenzuarbeiten oder in Echtzeit auf Entwicklungen am Markt zu reagieren. Diese vier Punkte betreffen alle Branchen gleichermassen, egal ob wir über neue Wege in der Pharmaforschung oder die Entwicklung eines virtuellen Assistenten für den Supermarkteinkauf reden.
In der Studie Ihres Unternehmens «Innovate or Fade» kommen die Autoren zum Schluss, dass europäischen Unternehmen rund 3 Billionen USD an Einnahmen wegen Defiziten in der Technologie gegenüber ihren amerikanischen Konkurrenten entgehen. Einer der Gründe wird bei den tieferen Forschungs- und Entwicklungsausgaben im Technologiebereich geortet. Zu welchen Themen müssten Schweizer Unternehmen zusätzliche Anstrengungen unternehmen?
Bei Forschung und Entwicklung sind wir in der Schweiz an sich gut aufgestellt – gerade was die öffentlichen Forschungseinrichtungen betrifft. Das Internet wurde am CERN erfunden, viele der international führenden KI-Experten wurden in der Schweiz ausgebildet oder haben hier gearbeitet.
«Bei der Forschung sind wir oft ganz weit vorn, aber wenn es darum geht, konkrete Anwendungen und Geschäftsmodelle daraus abzuleiten, sind andere schneller und besser.»
Unser Schwachpunkt ist die Kommerzialisierung neuer Technologien. Bei der Forschung sind wir oft ganz weit vorn, aber wenn es darum geht, konkrete Anwendungen und Geschäftsmodelle daraus abzuleiten, sind andere schneller und besser. Deshalb stellt sich für mich weniger die Frage, zu welchen Themen wir mehr forschen müssen, sondern wie wir das tun. Und hier kommen Ökosysteme ins Spiel. Dort arbeiten Partner gemeinsam an Innovationen, bringen sie auf den Markt und skalieren diese. Die Partner können Unternehmen derselben oder einer anderen Branche sein, Tech-Firmen, Startups und Forschungseinrichtungen.
Jeder steuert seine Stärken bei; und alle profitieren von neuen Produkten und Diensten, die sie allein nicht hätten anbieten können. Hier gibt es viele spannende Entwicklungen in der Schweiz gerade bei der künstlichen Intelligenz. So bringt zum Beispiel AlpineAI die KI-Forscher der führenden Einrichtungen im Land sowie hiesige Unternehmen zusammen, um generative KI «Made in Switzerland» anzubieten.
Es fällt auf, dass in den Geschäftsleitungen von grossen europäischen Unternehmen viel weniger Führungskräfte mit Technologieerfahrung zu finden sind als in den USA. Was bedeutet das für die digitale Transformation, in der sich die Wirtschaft befindet?
Das ändert sich gerade. Die nächste Generation von Führungskräften, also alle, die jetzt etwa Anfang bis Mitte 40 sind, ist ja mit der Digitalisierung in den Unternehmen seit den frühen 2000-ern gross geworden. Und ich glaube auch nicht, dass man unbedingt Softwarecode schreiben können muss, um die digitale Transformation des eigenen Unternehmens zu stemmen. Ein Basiswissen über alle relevanten Technologien ist trotz allem eine unverzichtbare Grundlage – etwa: was ist Quantum Computing, warum ist es wichtig, welche Einsatzbeispiele gibt es schon?
Noch wichtiger ist aber, dass Führungskräfte nicht nur die Technologien an sich verstehen, sondern auch deren strategische Bedeutung für das Unternehmen. Und hier braucht es einen ganz besonderen Typ an Führungspersönlichkeiten, die sowohl einen starken Technologiehintergrund als auch eine gewisse Risikobereitschaft mitbringen. Schliesslich ist jede grosse Transformation eine Reise ins Ungewisse. Sie bringt Herausforderungen mit sich, die Sie am Anfang noch gar nicht kennen. Sie werden immer wieder den Kurs überdenken und neue Wege einschlagen müssen. Es ist keine gerade Strecke, sondern die kurvenreiche Strasse, die zum Ziel führt. Wer sich nicht beirren lässt und mutige Entscheidungen trifft, wird am Ende belohnt: Der Abstand zur Konkurrenz wird uneinholbar gewachsen sein.
Anders als auf der Führungsebene sieht es bei den Mitarbeitenden aus. Hier investieren die Europäer mehr in technologische Weiterbildung als die amerikanischen Mitbewerber. Löst sich das Problem also über die Zeit von allein?
Das hat vor allem mit unterschiedlichen Voraussetzungen auf dem Arbeitsmarkt zu tun: In Europa gibt es viel zu wenig gut ausgebildete Fachkräfte mit Technologiewissen. Deswegen bleibt den Unternehmen oft nichts anderes übrig, als in die Weiterqualifizierung ihrer Mitarbeitenden zu investieren. Am Markt finden sie die digitalen Talente, die sie benötigen, jedenfalls nicht. Amerika hat einen starken Tech-Sektor, und das nutzt auch Unternehmen in anderen Branchen, zu denen Fachkräfte dann wechseln. Die hohen Ausgaben für Weiterbildung sind in Europa also eher aus der Not als aus der Tugend heraus geboren. Und wir dürfen nicht vergessen, dass Technologie sich heute so schnell verändert, dass selbst gut ausgebildete Fachkräfte sich in sehr kurzen Abständen immer wieder neues Wissen aneignen müssen. Das ständige Dazulernen ist heute aus keinem Job mehr wegzudenken.
Die Schweiz hat unter anderem auch im Technologiesektor einen erheblichen Mangel an Fachkräften, der sich in den nächsten Jahren mit der Pensionierung der «Babyboomer» noch verstärken wird. Welche Rezepte sehen Sie zur Linderung des Fachkräftemangels?
Ein Teil der Lösung ist, junge Menschen früher für technologische Berufe zu begeistern und ihnen die nötigen Grundlagen zu vermitteln. Dafür müssen wir vor allem die Ausbildung ab der Primarschule überdenken und insbesondere mehr Mädchen und später Frauen für Technologie begeistern. Da verschenken wir in der Schweiz noch sehr viel Potenzial.
«Wir sollten uns aber nicht nur auf den Nachwuchs konzentrieren, sondern mit Umschulungen und Weiterqualifizierungen auch ältere Beschäftigte fit für neue Berufsbilder machen.»
Wir sollten uns aber nicht nur auf den Nachwuchs konzentrieren, sondern mit Umschulungen und Weiterqualifizierungen auch ältere Beschäftigte fit für neue Berufsbilder machen. In der Praxis ist die grösste Hürde aber, dass Unternehmen oft gar nicht genau wissen, welche Fachkräfte sie in drei, fünf oder zehn Jahren brauchen. Neue Technologien – und damit auch ganz neue Berufsprofile – entstehen heute so schnell, dass Universitäten und Unternehmen bei der Aus- und Weiterbildung immer hinterherhinken werden. Denken Sie nur an die generative KI – vor einem Jahr waren Large Language Modelle ein absolutes Nischenthema, und heute suchen alle händeringend Spezialisten.
Die vorhin schon angesprochenen Ökosysteme sind auf jeden Fall ein Teil der Lösung. Kaum ein Unternehmen kann alle wichtigen Technologietrends allein mit eigenen Experten abdecken. Über das Ökosystem steuern Partner ihre Kompetenzen bei. Ausserdem sehe ich noch sehr viel Potenzial bei der Automatisierung bestimmter IT-Aufgaben, etwa das Programmieren oder Testen von Software.
Gemäss der Top500 Studie stellen Schweizer Unternehmen ihre europäische Konkurrenz in den Schatten, werden aber dennoch ohne zusätzliche Anstrengungen die 2050-Ziele verpassen. Was bedeutet das global gesehen, wenn Schweizer, europäische und amerikanische Unternehmen die 2050-Ziele offenbar nicht erreichen, ohne dass sie noch signifikant nachbessern und investieren, da die asiatischen Unternehmen hier kaum besser dastehen dürften?
Bei der Nachhaltigkeit ist es ein wenig wie mit der Digitalisierung: Es gibt in den Unternehmen viele einzelne Initiativen, aber oft kein ganzheitliches Konzept. Wir müssen uns viel stärker anschauen, wie ein Produkt oder ein Service über den gesamten Lebenszyklus hinweg weniger Emissionen verursachen kann. Die Kreislaufwirtschaft – also mehr Wiederverwendung von Rohstoffen – wird ganz sicher an Fahrt aufnehmen. Nicht nur aus Klimagründen, sondern auch um die Rohstoffabhängigkeit von anderen Ländern zu reduzieren. Und gerade für die Schweizer Unternehmen, die global tätig sind, gibt es noch viel Nachholbedarf bei den sogenannten Scope-3-Emissionen. Das sind die Treibhausgase, die in der Lieferkette, also bei Zulieferern und anderen Partnern entstehen. Wer hier nicht ansetzt, wird seine Emissionsziele nicht erreichen. Die Schweizer Firmen könnten hier ausrichten, wenn sie einerseits ihr Know-How mit Zulieferern teilen und andererseits klare Vorgaben machen.
«Die Kreislaufwirtschaft – also mehr Wiederverwendung von Rohstoffen – wird ganz sicher an Fahrt aufnehmen. Nicht nur aus Klimagründen, sondern auch um die Rohstoffabhängigkeit von anderen Ländern zu reduzieren.»
Digitalisierung und Elektrifizierung bedeuten auch, dass es in diesen Bereichen einen massiv steigenden Bedarf an Rohstoffen gibt. Was heisst das bezüglich globaler Machtverschiebungen und der Wettbewerbsposition von Europa?
Die Rohstoffe für wichtige Zukunftstechnologien haben wir in Europa nicht oder nur in sehr geringem Umfang. Das lässt sich nicht ändern. Der Ukraine-Krieg oder die Pandemie haben uns noch einmal sehr deutlich vor Augen geführt, wie anfällig unsere Lieferketten sind. Und zwar nicht nur bei seltenen Rohstoffen, sondern auch bei Vorprodukten, die wir aus dem Ausland beziehen, wie etwa Computerchips. Bei den Rohstoffen ist die einzige Lösung, mehr Mittel in die Erforschung von Alternativen zu investieren. Gerade bei der Batterietechnologie tut sich aktuell sehr viel. Die Europäer versuchen momentan mit viel Geld, eine lokale Chipproduktion aufzubauen, um diesen strategischen Nachteil wettzumachen.
Die Pandemie hat die geografische risikoreiche Abhängigkeit bei den Lieferketten aufgezeigt. Gerade hier hat die Schweiz, die sehr international ausgerichtet ist, erhebliche Defizite. Was genau sind die Probleme, welche Lösungen gibt es?
Das Wichtigste ist, nicht von einer einzelnen Region abhängig zu sein. Wir müssen das Risiko von Ausfällen streuen, selbst wenn das höhere Preise nach sich zieht. Das gilt sowohl für die Lieferanten wie auch die Produktionsstätten. Wichtig ist zudem, mit Hilfe von Echtzeitdaten und vielschichtigen Prognosemodellen mögliche Störungen frühzeitig zu erkennen. Ein Beispiel: Selbst kurze Arbeitsniederlegungen in einem wichtigen Hafen oder die Sperrung einer Hauptverkehrsachse – siehe Gotthardtunnel – führen schnell zu monatelangen Verzögerungen in den Lieferketten. Dann sollte man nicht erst handeln, wenn der Schaden schon entstanden ist, sondern möglichst früh nach Alternativen suchen. Deswegen ist Transparenz in den Lieferketten, die durch das permanente Auswerten aller möglicher Daten in Echtzeit entsteht, so wichtig. Die Kreislaufwirtschaft wird natürlich auch dazu beitragen, unsere Abhängigkeit zu reduzieren. Wenn Handys, Waschmaschinen oder Autos so aufgebaut wären, dass sich die dort verbauten Rohstoffe mit wenig Aufwand wiederverwerten liessen, könnten wir einen erheblichen Teil unseres Rohstoffbedarfs decken.
Zum Schluss des Interviews haben Sie zwei Wünsche frei. Wie sehen diese aus?
Mein erster Wunsch: Die Schweiz bleibt so innovativ wie sie es heute schon ist. Sie ist bei allen neuen Technologien unter den Top-3-Nationen weltweit. Sie etabliert sich als globale Datendrehscheibe und wird noch besser darin, Innovationen kommerziell zu nutzen. Mein zweiter Wunsch hängt mit dem ersten zusammen: Wir brauchen mehr Offenheit im Umgang mit unkonventionellen Ansätzen und unterschiedlichen Meinungen. Dieser Mut zum Disput war schon immer eine der Stärken der Schweiz mit ihrer demokratischen Tradition. Nur wer offen gegenüber anderen Sichtweisen ist, kann auch wirkliche Innovationen und mehrheitsfähige Resultate hervorbringen. Wer hingegen andere Meinungen ausgrenzt oder vorab definiert, was richtig und falsch ist, wird das Gegenteil erreichen.