Martin Neff, Chefökonom Credit Suisse Schweiz

von Christa Spoerle


Herr Neff,  2009 war gekennzeichnet von einem rückläufigen Bruttoinlandprodukt, steigenden Arbeitslosenzahlen, rückläufigen Preisen und freundlichen Börsen, was erwartet die Schweiz 2010?


2009 war kein wirklich tolles, aber sicher erstaunliches Jahr zumindest in der Börsenentwicklung. Hochgesteckte Erwartungen dürfte 2010 nicht erfüllen. Die Credit Suisse rechnet im laufenden Jahr lediglich mit einem Wirtschaftswachstum von 0,6% und liegt damit am unteren Rand der Erwartungen.


Was sind die wichtigsten  Risikofaktoren 2010?


Der grösste Risikofaktor für 2010 ist, ob die künstliche am Leben erhaltene Konjunktur durchhält, wenn die staatlichen Programme auslaufen. Denn die Schweiz hängt über ihre Exportlastigkeit am Tropf der Weltwirtschaft.  Rund 40 bis 45% der weltweiten Konjunkturprogramme, die je nach Land etwa 2,5% Wachstumsprozente pro Jahr ausmachen, fallen noch in diesem  Jahr an. Der Absturz wurde 2009 verhindert durch die Geld- und Finanzpolitik, aber auch dank verschiedenen  Rettungsprogramme der Regierungen z.B. für die Banken. Die Frage ist, wie schnell verpufft deren Effekt und kann dieser durch die private Nachfrage ersetzt werden. Ein Vorgeschmack könnte die Abwrackprämie in Deutschland bieten, nach deren Auslaufen der Fahrzeugabsatz zusammenbrach. Bisher kann man keinesfalls von einem nachhaltigen Aufschwung reden, weder konjunkturell noch an der Börse, sondern vielmehr von einem Rückstosseffekt nach dem Einruch Ende 2008 und 2009. Es sieht nicht so aus, als könnte man gerade wieder zur Tagesordnung übergehen und den nächsten Aufschwung zelebrieren.


Können wir denn eventuell auch mit positiven Überraschungen rechnen?


Positive Überraschungen möchte ich nicht ausschliessen, rechne aber eher mit negativen Überraschungen. Denn viele positive Erwartungen sind gerade in der Börsenentwicklung bereits eskomptiert.  Vor allem in den USA zeigt sich an den Arbeitsmarktdaten deutlich, dass der Aufschwung noch immer harzig verläuft und bis zu Normalisierung noch mit einem Übergang von 2-3 Jahren gerechnet werden muss.  Positive Überraschungen erwarte ich höchstens von einigen Firmenabschlüssen. Ich denke nicht, dass z.B. im Maschinenbau mit einem «Blutbad» zu rechnen ist. Die raschen Kostensenkungen haben sich nämlich positiv auf die Ertragsentwicklung auswirkt


» Die stark zyklischen Industrien, die schnell und zum Teil heftig reagieren, wie Metall-,  Chemie ? und Kunststoffindustrie, aber im gegenwärtigen Zyklus auch die Banken, schnuppern etwas Morgenluft. Völlig unberührt vom Abschwung bleibt die Bauwirtschaft»


Bei welchen Branchen sehen Sie die grössten Erholungschancen, welche müssen noch warten?


Die stark zyklischen Industrien, die schnell und zum Teil heftig reagieren, wie Metall-, Chemie ? und Kunststoffindustrie, aber im gegenwärtigen Zyklus auch die Banken, schnuppern etwas Morgenluft. Allerdings reicht das erwartete Wachstum von 0,6% keineswegs zum richtigen Durchstarten, doch das Schlimmste könnte vorbei sein. Maschinenbau und Uhrenindustrie befinden sich noch in der Talsohle, aber da braucht es schon noch mehr als 0,6% Wachstum, damit sie ihre strukturellen Probleme langsam ad acta legen können. Die durchschnittlich zyklischen Bereiche, wie Papierindustrie -und Elektrotechnik finden langsam aus der Talsohle heraus. Das Gastgewerbe hat diese noch gar nicht erreicht. Mit  rückläufigen Übernachtungen ausländischer Gäste, macht sich auch hier langsam ein negatives Szenario breit. Völlig unberührt vom Abschwung bleibt die Bauwirtschaft.  Noch 2006/2007 führte der Beschäftigungsaufbau zu einer höheren Nachfrage im Bürobereich und parallel führte die höchste Zuwanderung seit dem 2. Weltkrieg dazu, dass im Wohnungsbau das Ende des Booms hinausgeschoben wurde. Damit könnte die Bauwirtschaft für einmal mit einem blauen Auge davon kommen und einen eigentlichen Abschwung umschiffen. Pharma und Gesundheitsindustrie sind ebenso wie Nahrungsmittel- und Genussmittelindustrie gut unterwegs. 


Sie haben kürzlich eine Studie über den Detailhandel veröffentlicht, was sind die wichtigsten  Einsichten?


Beim Detailhandel weichen die rosaroten Wolken einer realistischeren Beurteilung. Ein erwarteter Umsatzrückgang um 0,5% wirkt unspektakulär, aber die Überkapazitäten und neue Anbieter werden dafür sorgen, dass sich der Kampf um Marktanteile akzentuiert.  Nach 3-4 Boomjahren findet der Einzelhandel jetzt wieder auf den Boden der Normalität zurück und da schmerzen die strukturellen Überkapazitäten. Dazu gehören vor allem die am falschen Ort gelegenen Verkaufsflächen. Es entstanden nicht nur neue Einkaufszentren, sondern auch die Bestehenden wurden ausgebaut, was zu einem Verdrängungskampf vor allem zu Lasten kleiner Anbieter geht. An den Einstandspreisen als wichtigem Kostenfaktor lässt sich derzeit kaum schrauben, genausowenig beim zweitwichtigsten Kostenfaktor ? den Löhnen, denn der Detailhandel ist nicht gerade für hohe Löhne bekannt. Damit wird der Flächenfaktor zur wichtigsten beeinflussbaren Grösse, was auch die Retail Immobilien zu spüren bekommen dürften. 


Was erwarten Sie denn für den Schweizer Immobilienmarkt?


Die Schweiz ist meilenweit von einem Debakel am Immobilienmarkt entfernt. Von einer massiven Überhitzung kann keine Rede sein. Es ist gibt nur einige Hotspots, wo man sich über die Nachhaltigkeit der Immobilienpreisentwicklung  Gedanken machen muss. Dazu gehören wegen der Angebotsverknappung das Oberengadin, Gemeinden wie Zermatt, Gstaad und Crans Montana und die bekannten Gemeinden am Zürichsee oder Genfersee und teils Genf selbst. Dabei bemisst sich die Nachhaltigkeit  der Immobilienpreiese an der Entwicklung der Einkommen in der Region. Die erste Stufe des Wohneigentumsbooms haben wir wohl hinter uns, es gibt eine gewisse Sättigung und in nächster Zeit wird wohl die Nachfrage nach Mietwohnungen wieder zunehmen.


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Wie lange werden die Zinsen noch auf diesem tiefen Niveau verharren?


Wir rechnen mit einer Erhöhung der Zinsen um 50 Basispunkte in zwei Schritten im laufenden Jahr, allerdings erst im zweiten Halbjahr. Wobei wir uns mit dem Zeitpunkt noch etwas schwertun. Die SNB versorgt die Wirtschaft derzeit ja nicht nur mit billigem Geld, sondern ist auch am Devisenmarkt mit Interventionen und am Kapitalmarkt via Reposätze und deren Laufzeiten tätig. Der Restriktionsgrad der Geldpolitik misst sich daher nicht nur an den Zinsen. Das Dilemma der SNB besteht darin, dass der permanente Druck auf den Franken isolierte Zinserhöhungen nahezu unmöglich macht. Zudem muss hinter die Robustheit der Konjunktur zumindest ein Fragezeichen gesetzt werden. Das heutige Szenario ist nun einmal ungewöhnlich und weit von den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte entfernt. Zudem ist das Finanzmarktdebakel noch nicht vollständig bereinigt. Neben einzelnen Instituten stehen auch ganze Nationen im Rampenlicht, wie kürzlich Griechenland oder Dubai. Unsicherheiten bleiben also durchaus vorhanden, was die Aufgabe der SNB zusätzlich erschwert.


«Wir rechnen mit einer Erhöhung der Zinsen um 50 Basispunkte im zweiten Halbjahr.  Und wir halten es nicht für ausgeschlossen, dass der Dollar bis zum Jahresende unter die 1-Frankenmarke bis auf 0,93-0,95 fällt und der Euro bei rund 1,45 liegen könnte.»


Also wird der Franken weiterhin stark bleiben?


Wir rechnen damit, dass der Franken gegenüber Euro und Dollar bis zum Jahresende  fest bleiben wird. Der Euro hat jüngst die magische Grenze von 1,50 unterschritten und trotz Interventionen der SNB bleiben der Aufwärtsdruck auf unserer Währung fast täglich spürbar.  Deshalb halten wir es nicht für ausgeschlossen, dass der Dollar bis zum Jahresende unter die 1-Frankenmarke bis auf 0,93-0,95 fällt und der Euro bei rund 1,45 liegen könnte.  Immerhin ist die Schweiz derzeit eines der wenigen Länder, das die Maastricht-Kriterien erfüllt. Selbst der ehemalige Stabilitätsweltmeister Deutschland wirft derzeit die fiskalische Disziplin über Bord, was von den Anlegern gar nicht goutiert wird. Alternativen fehlen den Anlegern aber klar, denn China ist sicher ein Thema, aber angesichts des totalitären Regimes keine völlig überzeugende Variante. Der Liquiditätsüberhang könnte daher 2010 und noch 2011 zu einigen Überraschungen führen.


Werden Aktien oder Obligationen bei den Anlegern im Vordergrund stehen?


Nach den kleinern und grösseren Bondrallyes der letzten Zeit spricht fundamental doch einiges mehr für Aktien. Falls sich die Konjunkturerholung allerdings akzentuiert, schwebt aber bald das Damoklesschwert höherer Zinsen über den Börsen. Eine leichte Übergewichtung der Aktien könnte sich 2010 auszahlen. Wir haben in unserer Anlagestrategie den Aktienanteil zwar bereits leicht zurückgefahren, sind aber immer noch übergwichtet und sehen derzeit keine Veranlassung, ihn weiter zurückzunehmen.


Was erwarten Sie auf den Rohstoffmärkten?


Rohstoffe sind eine komplexe Geschichte. Der Ölpreis zieht wieder an, auch Kupfer nähert sich wieder seinem Höchststand und  Gold haussiert.  Ich habe meine Zweifel, dass dafür überall die physische Nachfrage verantwortlich gemacht werden kann. Vielmehr dürften einige Anleger Rohstoffe als Alternative sehen. Öl könnte auf dem Niveau von 80/90 USD pro Barrel noch etwas länger verweilen. Sicher ist in  den Rohstoffpreisen ein gewisser Konjunkturoptimismus eingepreist. Die stabile Lage in den emerging markets rechtfertigt gewissermassen  höhere Preise, aber eine gewisse Skepsis ist angesichts der unsicheren Lage in den Industriestaaten angebracht.


Herr Neff, was ist ihr persönliches Lieblingsszenario für 2010?


Mein Lieblingsszenario wären einerseits keine massiven Rückschläge, aber auch keine Erholung, die sich als Eintagsfliege herausstellt und Problemlösungen übertüncht. Die Erfahrungen aus den 90er Jahren zeigen, dass die Bereinigung eines Immobiliencrashs mit der entsprechenden Preisblase einfach länger dauert. Die Schweizer Immobilienkrise der frühen 90er Jahre, in der  Werte von gut 40 Mia CHF verbrannt wurden, hat die Wirtschaftsentwicklung  bis 1997 negativ beeinflusst. Zwar hat sich das hier in der Schweiz scheibchenweise auf mehrere Jahre verteilt und nicht wie in den USA schockweise. Aber auch die Immobilienkrise in der Schweiz hat schon in den 90er Jahren, was häufig vergessen wird, einigen Banken das Leben gekostet, Konjunkturprogramme ausgelöst, zur Einführung der Mehrwertsteuer geführt  und den Liquiditätsfluss zwischen den Banken behindert. 


Herr Neff, besten Dank für das Interview.





Zur Person: 
Martin Neff ist seit 2008 Leiter des Economic Research der Credit Suisse AG. Er war nach Abschluss seines Studiums der Volkswirtschaftslehre an der Universität Konstanz zunächst als Berater bei der S&Z GmbH in Allensbach, Deutschland, tätig bevor er 1998 zum Schweizerischen Baumeisterverband (SBV) in Zürich wechselte. Dort wirkte er als Bereichsleiter für Konjunkturbeobachtung. Ende 1992 trat er ins Economic Research der Credit Suisse ein. Martin Neff ist zudem Kenner der Schweizer Immobilienmärkte. Seine Analysen sind ein wichtiger Bestandteil der Expertise der Credit Suisse in wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Themen. Martin Neff lehrt zudem als Fachrat im Institut für Finanzdienstleistungen (IFZ) in Zug und ist Dozent für Immobilienökonomie an der Donau-Universität in Krems, Österreich.

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