Matthias Zehnder: «Wie gut muss gratis sein?»
Nach dem Sunrise-Mail-Gau, den ich in der letzten Kolumne thematisierte, gab es eine angeregte Debatte über die «Fünfer und Weggli»-Mentalität der Internetbenutzer. Dürfen User wirklich erwarten, gratis und erst noch gut bedient zu werden?
Von Matthias Zehnder
Auf meine vor zwei Wochen publizierte Kolumne zum Absturz der Sunrise-Gratismail-Server wurde, abgesehen von den bestätigenden «endlich jemand, der gegen die Fünfer und Weggli-Mentalität spricht», vor allem eine Frage aufgeworfen: Wie gut muss gratis sein?
Der Einwand gegen meine Argumentation, der Kunde könne von einem Gratisangebot nicht denselben Service-Level erwarten wie bei einem teuren Businessangebot: Ganz egal, was für einen Preis der Kunde bezahlt, er nimmt ein Dienstleistungsangebot eines Anbieters an und darf, gratis hin oder her, erwarten, dass er anständig bedient wird.
Es darf doch nicht sein, dass Kunden, die sich auf die Versprechungen eines Anbieters verlassen, hinterher die Gelackmeierten sind. Es darf doch nicht sein, dass bei einem solchen Absturz letztlich der Kunde selbst schuld ist, weil er sich auf das Angebot eingelassen hat.
Nein, das darf wirklich nicht sein.
«Viele User wissen nicht, was hinter einer Mailadresse steht, warum Aspekte wie Sicherheit und Reliabilität für sie wichtig sind und weshalb es sich lohnt, dafür ein bisschen Geld in die Hand zu nehmen.»
Gratisangebote wie das Surfen oder Mailadressen sind Teil der Werbestrategie vieler Anbieter. Es ist etwa so, wie wenn ein Metzger seinen Kunden Holzbrettchen oder Messer mit seinem Logo abgeben würde. Wenn der Kunde mit dem Messer nicht schneiden kann, weil es nicht scharf genug ist, schneidet sich der Metzger damit selbst ins Fleisch – der erwünschte Werbeeffekt verkehrt sich ins Gegenteil.
Der Kunde zuckt mit den Schultern – und kauft sein Fleisch künftig woanders. Wenn der Kunde sich dagegen beim Fleisch schneiden mit dem Messer verletzt, weil die Klinge abbricht, ist der Metzger in der Pflicht. Das Messer leistet nicht das, was man erwarten kann – ein Fall für die Produktehaftpflicht. Dass das Messer kostenlos abgegeben wurde, ist in so einem Fall völlig nebensächlich.
Das ist die objektive Seite. Der gesunde Menschenverstand weiss, dass «gratis» sich durchaus auf das Produkt niederschlagen kann. Das kostenlose Messer ist vielleicht schneller stumpf, der Werbekugelschreiber braucht bald eine neue Mine, im Suppenmuster hat es nur einen Beutel statt drei.
Nur scheinen viele Menschen im Internet den gesunden Menschenverstand abzuschalten und erwarten, dass es im «Suppenmuster» gleich viel Suppe drin hat wie in der Familienpackung, dass also ein Gratis-Mailaccount genau so gute Dienste leistet wie ein kostenpflichtiges Abonnement.
Dass sie das erwarten, ist aber nicht ihr Fehler.
Denn vermutlich wissen sie schlicht nicht, warum sie für E-Mail bezahlen müssen. Sie wissen nicht, was hinter einer Mailadresse steht, warum Aspekte wie Sicherheit und Reliabilität für sie wichtig sind und weshalb es sich lohnt, dafür ein bisschen Geld in die Hand zu nehmen.
Fachleute nennen die Kluft zwischen dem Wissen und Können der Menschen und den technischen Möglichkeiten den «educational Gap». Das Problem bei Gratisangeboten ist dieser Gap, nicht das «gratis». Das Problem ist also, dass viele Internetbenutzer ein Angebot inhaltlich nicht beurteilen können – und deshalb nur den Preis beurteilen. Klar, dass gratis gewinnt – egal, wie gut das Angebot ist.
Der Ball liegt damit übrigens nicht bei den Kunden, sondern bei den Anbietern. Sie sind gefordert, den «educational Gap» mit Informationen zu schliessen. Nur dann können sie künftig Geld für ihre Services verlangen – und dürfen davon ausgehen, dass jemand, der ein Gratisangebot benutzt, realistische Anforderungen stellt.
Der Autor
Matthias Zehnder
Matthias Zehnder ist Technologiepubizist und Medienspezialist. Er arbeitet als Technologiekorrespondent für Radio DRS und verschiedene Tageszeitungen, führt das Internet-Magazin Smile und unterrichtet an der Universität Basel.Kontakt:
[email protected]
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