von Patrick Gunti
Herr Grass, BAK BASEL hat im Auftrag der Interessengemeinschaft Detailhandel Schweiz IG DHS die Bedeutung des Detailhandels für die Schweizer Volkswirtschaft untersucht. Den Resultaten zufolge weist der Detailhandel im Branchenvergleich zwischen 2000 und 2008 ein klar überdurchschnittliches Produktionswachstum auf. Was sind die Gründe?
In der Tat ist die Produktivität im Schweizer Detailhandel seit der Jahrtausendwende überdurchschnittlich angestiegen ? sowohl im nationalen Vergleich mit anderen Branchen als auch im internationalen Vergleich mit dem Detailhandel in den meisten anderen Ländern Europas. Die Hauptursache für den Produktivitätsschub sehen wir in der Technologisierung der Branche, die starke Effizienzsteigerungen ermöglicht hat. Haupttreiber des technologischen Fortschritts sind die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, die den Detailhandel von einer «low-tech» Branche in eine moderne Informationsindustrie verwandelt haben. Organisatorischer und struktureller Wandel sind weitere Gründe für die Produktivitätsgewinne.
Sie schreiben dem Detailhandel in der aktuellen konjunkturellen Phase eine stabilisierende Wirkung zu. Wie zeigt sich diese?
Im Konjunkturverlauf kommt dem Detailhandel eine stützende Funktion zu, da die Konsumnachfrage im Detailhandel deutlich weniger sensitiv reagiert als andere Nachfragekomponenten der Volkswirtschaft wie beispielsweise die Investitionen oder die Exportnachfrage. Als im Herbst 2008 nach dem Finanzsektor auch die exportorientierten Unternehmen markante Einbussen hinnehmen mussten und die Schweizer Wirtschaft in die Rezession rutschte, war der Detailhandel eine der wenigen Branchen, welche der Schweizer Wirtschaft noch Impulse verleihen konnten.
Die effektive volkswirtschaftliche Bedeutung des Detailhandels in der Konjunkturkrise ist aber grösser. Können Sie uns diese erläutern?
Der Detailhandel als klassischer Intermediär zwischen Produzenten und Verbrauchern weist eine sehr hohe Verflechtung mit anderen Branchen der Schweizer Wirtschaft auf. Die Nachfrage nach Gütern im Detailhandel löst indirekt auch Nachfrage bei den Produzenten dieser Waren sowie bei den Anbietern von Vorleistungsgütern und -dienstleistungen, welche der Detailhandel für das Betreiben seines Geschäfts benötigt, aus. Diese Verflechtungen führen dazu, dass die effektive volkswirtschaftliche Bedeutung des Detailhandels deutlich grösser ausfällt, als die Zahl der Erwerbstätigen oder die Bruttowerschöpfung der Branche vermuten lassen. Eine frühere Impact-Studie von BAKBASEL kam zum Ergebnis, dass mit jedem im Detailhandel entstehenden Franken Wertschöpfung rund zwei zusätzliche Wertschöpfungsfranken in anderen Branchen verbunden sind.
In den 90er Jahren verzeichnete der Detailhandel einen Rückgang der Erwerbstätigkeit. Welche Bedeutung hat die Detailhandelsbranche als Arbeitgeber heute?
Im Jahr 2008 waren rund 350’000 Personen im Detailhandel erwerbstätig. Damit stellte der Detailhandel im vergangenen Jahr ungefähr jeden zwölften Arbeitsplatz in der Schweiz. Diese Zahlen belegen die hohe Bedeutung der Branche als Arbeitgeber. Gerade für bestimmte soziodemographische Gruppen kommt dem Detailhandel auf dem Arbeitsmarkt eine wichtige Rolle zu. Als Stichworte seien hier Teilzeitarbeit, Frauenerwerbstätigkeit, Ausbildung und die Integration von weniger gut qualifizierten und ausländischen Erwerbspersonen genannt.
«Der Detailhandel ist für die Schweizer Volkswirtschaft eine der Erfolgsgeschichten der letzten Jahre.»
Die Löhne im Detailhandel sind zwischen 1998 und 2006 jährlich im Schnitt um 1,4 % gestiegen. Die Branche liegt aber bei der Entlöhnung deutlich unterhalb des gesamtwirtschaftlichen Durchschnitts. Sind die Löhne zu tief?
Im Hinblick auf die Lohnsteigerungen liegt der Detailhandel in der vergangenen Dekade in etwa im nationalen Durchschnitt. Die Bruttolöhne – bereinigt um Unterschiede in der betriebsüblichen Arbeitszeit – stiegen im Detailhandel in dieser Zeit um durchschnittlich 1.4 Prozent pro Jahr. Für die Gesamtwirtschaft ergibt sich eine Steigerungsrate von 1.3 Prozent.
Im Hinblick auf das Lohnniveau liegt der Detailhandel deutlich unterhalb des gesamtwirtschaftlichen Durchschnitts. Daraus kann man allerdings keinesfalls ableiten, dass die Löhne im Detailhandel zu tief sind. Denn auf kompetitiven Märkten steht die Entlohnung eines Produktionsfaktors in strengem Zusammenhang mit seiner Produktivität. Unsere Daten belegen, dass die Löhne in der Schweiz in den Branchen am höchsten sind, in denen die Arbeitsproduktivität am höchsten ist.
Da die Arbeitsproduktivität positiv von der Kapitalintensität abhängt, weisen arbeitsintensive Branchen wie der Detailhandel oder das Gastgewerbe von vorneherein eine tiefere Produktivität – und damit auch tiefere Löhne – als die industriellen Branchen auf, welche einen hohen Kapitaleinsatz pro Erwerbstätigen aufweisen. Betrachtet man die Relation von Produktivität und Entlohnung, scheint im Detailhandel kein unfaires Verhältnis von Produktivität und Entlohnung des Faktors Arbeit vorzuherrschen.
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Die Beschäftigten im Detailhandel haben gemäss ihren Erhebungen 2008 total 18 Mrd. Franken verdient, was rund 5 % der gesamten Lohnsumme der Arbeitnehmer in der Schweiz entspricht. 1980 waren es noch 8 %. Wie erklärt sich dieser Rückgang?
Dieser Anteilsverlust kommt zum einen durch die unterdurchschnittliche Beschäftigungsentwicklung zustande, zum anderen dadurch, dass die Verkürzung der durchschnittlichen Arbeitszeit pro Erwerbstätigen im Detailhandel viel deutlicher ausfiel. Die Stundenlöhne dagegen haben sich in den vergangenen 10 Jahren in etwa im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt entwickelt.
Was macht die Branche für Arbeitnehmende interessant?
Der Detailhandel ist für die Schweizer Volkswirtschaft eine der Erfolgsgeschichten der letzten Jahre. Neben dem Erfolgsmerkmal ist es der Wandel, der die Branche interessant macht. Einerseits befindet sich die Branche immer noch in einem technologischen Transformationsprozess, der neue Herausforderungen und Anforderungen für die Mitarbeiter mit sich bringt. Das Know-how der Mitarbeiter wird in diesem Zusammenhang eine noch grössere Bedeutung erlangen. Andererseits hat sich der Wettbewerb im Schweizer Detailhandel intensiviert. Das bringt Schwung in die Branche. Dieser Elan färbt auch auf die Wahrnehmung der Branche ab.
Welche Rolle spielt der Detailhandel als Ausbildungsbranche?
Gemessen an den vollzeitäquivalenten Beschäftigten ist rund jede zehnte Arbeitsstelle im Detailhandel ein Ausbildungsplatz. Damit weist der Detailhandel mit die höchste Ausbildungsintensität auf. Rund jede achte Lehre wird im Detailhandel absolviert. Diese Zahlen belegen den hohen Stellenwert als Ausbildungsbranche.
Runde 42 % der Arbeitnehmenden im Detailhandel arbeiten Teilzeit. Wie ist dies im Branchenvergleich zu werten und kennen Sie Vergleichszahlen aus dem Ausland?
Im Durchschnitt aller Branchen liegt der Anteil bei rund 31 Prozent. In der Schweiz wird jeder zehnte Teilzeit-Arbeitsplatz im Detailhandel generiert. Damit stellt der Detailhandel im Hinblick auf die Bereitstellung von Teilzeit-Arbeitsplätzen die wichtigste Branche im privaten Sektor dar. Auch im internationalen Vergleich liegt die Teilzeitquote im Schweizer Detailhandel deutlich über dem Schnitt.
«Gemessen an den vollzeitäquivalenten Beschäftigten ist rund jede zehnte Arbeitsstelle im Detailhandel ein Ausbildungsplatz. Damit weist der Detailhandel mit die höchste Ausbildungsintensität auf.»
Wie wichtig ist ? auch im Zusammenhang mit der Teilzeitarbeit ? die Rolle des Detailhandels als Arbeitgeber für Frauen?
Insbesondere für Mütter mit Kindern hat Teilzeitarbeit eine grosse Bedeutung: Bei den 20 bis 54-jährigen Schweizer Frauen mit Kindern unter 15 Jahren arbeitet lediglich knapp eine von fünf erwerbstätigen Frauen über das volle Pensum. Mit insgesamt 214’000 weiblichen Beschäftigten sind im Detailhandel 12 Prozent aller in der Schweiz beschäftigten Frauen angestellt. Damit ist der Detailhandel die Branche mit der höchsten Frauenerwerbsquote im privaten Sektor. Diese Zahlen machen deutlich, dass der Detailhandel vielen Frauen den Weg in die Beschäftigung ermöglicht, die ansonsten keine Möglichkeit der Erwerbstätigkeit hätten.
Wie präsentiert sich die Bildungsstruktur innerhalb der Detailhandelsbranche?
Im Vergleich mit dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt weist der Detailhandel eine niedrige Durchschnittsqualifikation auf. Während der Anteil der hoch qualifizierten Arbeitnehmer im gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt bei rund 30 Prozent liegt, beträgt dieser Anteil im Detailhandel lediglich 10 Prozent. Der «Mittelbau» spielt im Detailhandel die wichtigste Rolle. Dies kommt darin zum Ausdruck, dass fast zwei Drittel der Erwerbstätigen eine mittlere Qualifikation aufweisen. Relativ, d.h. im Vergleich mit dem gesamtwirtschaftlichen Durchschnitt, ist allerdings die Bedeutung für die niedrig Qualifizierten noch höher einzustufen.
Von welcher weiteren generellen Entwicklung im Detailhandel gehen Sie aufgrund der Erhebungen der letzten Jahre für die nähere Zukunft aus?
Von der Angebotsseite her sind drei wichtige Entwicklungen abzusehen: Erstens wird sich der technologische Transformationsprozess fortsetzen. Die Möglichkeiten zu Effizienzsteigerungen sind noch nicht ausgereizt. Zweitens wird der Wettbewerb weiter zunehmen, was die Anstrengungen der Unternehmen nach Effizienzgewinnen noch verstärken wird. Drittens wird die langsame Öffnung der (Beschaffungs-) Märkte und agrarpolitische Reformen für den Detailhandel weitere Kosteneinsparungen ermöglichen. Mit der Liberalisierung der internationalen Warenbeschaffung wird zudem der Wettbewerbsdruck hoch gehalten.
Von der Nachfrageseite bringt der sozio-demographische Wandel die grössten Herausforderungen mit sich. Aufgrund sozi-demographischer Trends wird es auch in Zukunft eine Verlagerung des Konsums von Gütern hin zu Dienstleistungen geben. Hinzu kommt eine langsamere Bevölkerungsdynamik gepaart mit einer zunehmenden Alterung. Ab Mitte der 30er Jahre wird es zu einem Bevölkerungsrückgang kommen. Die Senioren werden schon früher die wichtigste Zielgruppe des Detailhandels sein. Wer erfolgreich sein möchte, muss sein Serviceangebot, sein Produktsortiment und seine Produktdarbietung an die Bedürfnisse der «Generation Gold» anpassen.
Herr Grass, vielen Dank für das Interview.
Zur Person:
Michael Grass, Dipl. Volkswirt, Dipl. Vermögensmanager (DIA)
Senior Economist BAK BASEL
Studium der Volkswirtschaft mit dem Schwerpunkt Statistik/Ökonometrie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. Seit 2002 arbeitet Michael Grass bei BAK Basel Economics. Er ist zuständig für die Konsum- und Detailhandelsprognose Schweiz und arbeitet im Bereich der Forschung und Modellentwicklung.
Zu BAK BASEL:
BAK Basel Economics ist ein unabhängiges Forschungsinstitut, das volkswirtschaftliche Analysen und Prognosen erstellt und Beratungsdienstleistungen auf empirischer und quantitativer Ebene anbietet. Im Fokus der Arbeiten stehen gesamtwirtschaftliche sowie branchen- und wirtschafts-raumspezifische Fragestellungen, sowohl auf nationaler als auch auf regionaler Ebene. In mehr als 25 Jahren hat sich BAK Basel Economics darauf spezialisiert, anhand unterschiedlicher Methoden Branchen und Regionen zu analysieren. Das Augenmerk richtet sich insbesondere auf internationale Vergleiche der Standortqualität und wirtschaftspolitische Themen. Methodisch konzentriert sich BAK auf die drei Kompetenzfelder Benchmarking, Strukturanalysen und Prognosen. Auftraggeber sind Regierungen, Verwaltungen, Verbände, Stiftungen und Unternehmen aus der Schweiz und ganz Europa.
Zur Studie:
Die neue Studie von BAK Basel im Auftrag aktualisiert die Daten einer älteren Studie, welche auf Statistiken aus dem Jahr 2005 basierte. Neu liegen die Zahlen bis 2008 vor. Der Fokus der aktuellen Studie liegt auf der Darstellung des Detailhandels als Arbeitgeber und als Leistungserbringer (Wertschöpfung, Produktivität etc.). Zudem wird die Rolle des Detailhandels in der aktuellen Konjunkturkrise diskutiert.
Zur IG DHS:
Die Interessengemeinschaft Detailhandel Schweiz (IG DHS) wurde von den sechs Schweizer Unternehmen gegründet: Migros, Coop, Denner, Manor, Charles Vögele und Valora. Das gemeinsame Ziel ist es, den Anliegen des Detailhandels in der Öffentlichkeit und in der Politik zum Durchbruch zu verhelfen. Die Interessengemeinschaft ist die naheliegende Form der Zusammenarbeit, weil alle Mitgliederfirmen eine schlanke und effiziente Struktur möchten. Auf den Absatz- als auch auf den Beschaffungsmärkten bleiben die sechs Mitglieder weiterhin Konkurrenten. Sie haben sich jedoch entschieden, ihre Interessen zum Nutzen der Konsumentinnen und Konsumenten verstärkt zu bündeln und in klar definierten Themenbereichen gemeinsam aufzutreten. Stichworte: Hochpreisinsel Schweiz, Agrarpolitik, Mehrwertsteuer-Reform.