Michel Kunz, CEO Orell Füssli Holding

Von Jolanda Lucchini


Moneycab: Herr Kunz, Orell Füssli ist eine der ältesten Firmen der Welt, ihr ist es gelungen, mit den Erfordernissen der Zeit zu gehen. Worauf zielen Sie mit der aktuellen Akquisition von wesentlichen Vermögensteilen der insolventen deutschen Böwe Cardtec ab, einer führenden Herstellerin von Hard- und Softwarelösungen zur Verwaltung, Personalisierung und Versendung sicherer Chipkarten für Staatsregierungen, Banken und Mobiltelefonieanbieter?


Michel Kunz: Durch die Akquisition kann unsere Industriedivision Atlantic Zeiser ihre Marktleistungen zügig komplettieren und gleichzeitig wertvolle Entwicklungsressourcen einsparen. Daneben versprechen wir uns mittelfristig Synergien auf der Vertriebsseite und bei der Herstellung. Atlantic Zeiser bietet bereits seit Jahren erfolgreich Investitionsgüter zur sicheren Hochleistungsindividualisierung von Karten ohne festen Personenbezug an. Hier hat sie sich konsequent zum Marktführer entwickelt.



«Wir gehen hier nicht den breiten Markt an, sondern konzentrieren uns auf ein Segment, das an der Spitze von Sicherheitstechnologie und Innovation steht. Hierfür haben wir ausgezeichnete Referenzen; auch der Standort Schweiz spielt bei Vertrauen (Stichwort «Datensicherheit»), Zuverlässigkeit und Qualität eine grosse Rolle.» Michel Kunz, CEO Orell Füssli Holding


Damit gab sich Atlanic Zeiser aber noch nicht zufrieden. Dank kontinuierlicher Technologieinnovationen konnte sie inzwischen auch in aufstrebenden Segmenten für fälschungssichere Bankkarten und staatliche Ausweiskarten mit neuartigen Personalisierungssystemen Fuss fassen. Hier wünschen Kunden vielfach ? über die eigentliche Industrieanlage hinaus ? eine umfassende Lösung für ihr Kartenprojekt. Schliesslich wollen die sensiblen Kartenbesitzerdaten irgendwie erfasst und passend an die Maschinen geliefert werden. Nach der Herstellung ist die Karte an ihren rechtmässigen Besitzer zu versenden. Und eine Botschaft im Ausland möchte ihren Bürgern im Notfall auch schnell vor Ort einen Ersatzausweis ausstellen können. Dazu braucht es ergänzende Kleinsysteme mit entsprechender Funktionalität sowie eine intelligente, sichere Software, die «von der Wiege bis zur Bahre» jeder Karte die Kontrolle behält. Mit anderen Worten: das Portfolio von Böwe Cardtec.


Die Orell Füssli Holding (OFH) verzeichnete 2009 einen Umsatz- und Gewinnrückgang von 17% auf 306,3 Mio. Franken. Welche wichtigsten Faktoren waren daran schuld?


Im Jahr 2008 war noch ein Halbjahresumsatz von 12 Mio. Franken der verkauften Division Wirtschaftsinformationen enthalten. Beim Sicherheitsdruck reduzierte sich der Umsatz unter anderem durch die Verschiebung der Aufträge der Schweizerischen Nationalbank (SNB) um 18 Mio. Franken. Bei Atlantic Zeiser resultierte aufgrund der Wirtschaftskrise ein Minderumsatz von 32 Mio. Franken.


Derzeit drucken Sie für die SNB die Scheine der bestehenden Serie nach. Wann starten Sie mit dem Neudruck?


Die Ausgabe der neuen Noten wurde von der SNB für das Jahr 2012 in Aussicht gestellt. Um diesen Terminplan einzuhalten, werden wir im nächsten Jahr mit dem Druck beginnen. Letztendlich ist es jedoch immer die Entscheidung des Endkunden, wann mit dem Druck begonnen werden darf.


Wie wichtig ist umsatzmässig der SNB-Auftrag für Ihr Unternehmen?


Der Anteil der SNB am Gruppenumsatz liegt zu Zeit bei 6 bis 7%.


Orell Füssli ist nicht nur Exklusivpartner der SNB, sondern auch weltweiter Geschäftspartner diverser anderer Zentralbanken. Letztes Jahr hat OF 140 Millionen Schweizer Banknoten gedruckt. Wie viele Banknoten waren es weltweit?


Aus Vertraulichkeitsgründen nennen wir keine genauen Zahlen zu unseren Zentralbankkunden.


Wie sehen Ihre Auftragsbücher für 2010/2011 aus?


Die restlichen Monate dieses Jahres fahren wir Vollauslastung. Für 2011 ist es zur Zeit noch schwierig, Prognosen zu machen, da diverse Kundenentscheide noch ausstehen.


Der Wettbewerb soll sich im Segment Sicherheitsdruck verstärkt haben. Weshalb?


Der Markteintritt von Staatsdruckereien hat dem Markt weitere Produktionskapazität hinzugefügt und den Druck auf Preis und Margen stark erhöht.


Besonders stark soll der Kampf um Anteile am Ausweis- und Sicherheitsdokumente-Markt sein, wo neue Anbieter mit geringen Investitionen Preis-Dumpingmässig mitmischen können. Wie begegnen Sie dem?


Wir gehen hier nicht den breiten Markt an, sondern konzentrieren uns auf ein Segment, das an der Spitze von Sicherheitstechnologie und Innovation steht. Hierfür haben wir ausgezeichnete Referenzen; auch der Standort Schweiz spielt bei Vertrauen (Stichwort «Datensicherheit»), Zuverlässigkeit und Qualität eine grosse Rolle. Dies sind Faktoren, die uns bei der Akquisition helfen.


Wird die Produktion von Banknoten mittelfristig eher abnehmen und durch Plastikkarten ersetzt werden?


Seit über drei Jahrzehnten heisst es, dass das Bargeld verschwinden wird; die Marktzahlen belegen jedoch, dass die Nachfrage nach Bargeld weltweit stetig zunimmt ? also genau das Gegenteil davon der Fall ist. Anderseits ist auch richtig, dass die Verwendung und Verbreitung von Plastikkarten ebenfalls zunimmt. Hier kann es aber sein, dass die Plastikkarte eher andere Zahlungsmittel ? Stichwort «Scheckzahlungen» ? ersetzt.


Beim Publikum ist OF vor allem als Buchhändler bekannt. 49 Prozent der Orell Füssli Buchhandlungs AG gehören heute der deutschen Buchhändlerfamilie Hugendubel. Inwiefern profitieren Sie in der Schweiz davon?


Orell Füssli und Hugendubel pflegen auf Top-Management Ebene einen regelmässigen Erfahrungsaustausch, operieren auf ihren jeweiligen Märkten aber eigenständig. Konkrete Synergien bestehen in Teilbereichen der Beschaffung mit Auswirkungen auf etwa ein Fünftel des Beschaffungsvolumens.


Buchdiscounter wie Ex Libris wehren sich mit starken Preissenkungen gegen eine Wiedereinführung der Preisbindung, welche voraussichtlich in der Wintersession im Nationalrat diskutiert werden soll. Was würde die erneute Einführung einer Preisbindung für Ihre Ladengeschäfte bedeuten?


Der Preiswettbewerb im Buchmarkt besteht primär zwischen Ladengeschäften und dem nationalen und internationalen Buch-Internethandel. Würde eine nationale Preisbindung eingeführt, welche den internationalen und allenfalls auch den nationalen Buch-Internethandel ausklammert, so entstünden dem Flächenbuchhandel erhebliche Wettbewerbsnachteile. Eine solche Regelung könnte zu einer beschleunigten Volumenverlagerung weg von den Ladengeschäften hin zu den Onlinehändlern führen. Die Auswirkungen auf kleine und grosse Ladengeschäfte wären wohl erheblich, und viele Geschäfte müssten über kurz oder lang schliessen.


Im Buchhandel sehen Sie sich erneut mit einer rückläufigen Nachfrage konfrontiert. Der Umsatz des 1. Halbjahres 2010 liegt mit 53.3 Mio. Franken knapp unter der entsprechenden Vorjahresperiode (54.9 Mio.). Welche Bereiche stagnierten respektive waren rückläufig?


Der Umsatz in den Ladengeschäften entwickelt sich leicht rückläufig, wobei dies zwei Ursachen hat. Auf der einen Seite sehen wir seit einigen Jahren eine nachhaltige Volumenverlagerung von den Ladengeschäften in den Internetkanal, was auf sich verändernde Kaufgewohnheiten unserer Kundschaft schliessen lässt. Auf der anderen Seite kommt es aufgrund der Verwerfungen an der Währungsfront, sprich: Kurszerfalls des Euros, seit Anfang Jahr zu schrittweisen Preisabsenkungen, welche sich in den Umsätzen niederschlagen.



«Unser Internetportal storyworld.ch bietet prompte Lieferung von Büchern und Medien zu einem sehr attraktiven Preis, existiert aber nur im Internet und verzichtet auf viele Extras.»


Auch OF setzt wegen der sich verändernden Kaufgewohnheiten verstärkt auf das Internet: Mit books.ch ? und auch mit storyworld.ch, einer eigenständig operierenden Tochtergesellschaft, die Discount-Preise mit bis zu 30% Abschlag bietet. Was ist die Strategie hinter dieser Doppelgleisigkeit?


Orell Füssli richtet sein Aktivitätenportfolio konsequent auf die Präferenzen der Buchkäufer aus. Unsere Aufgabe ist es letztendlich, die Kunden mit all ihren unterschiedlichen Anforderungen und Bedürfnissen auf allen nachgefragten Kanälen optimal zu bedienen. Mit dem Format storyworld.ch haben wir eine Lücke unseres Angebotsportfolio in einem Kundensegement geschlossen, welches dynamisch wächst.


Wenn ich auf books.ch einkaufe, sehe ich nicht, dass OF auf einem weiteren Portal teils die gleichen Bücher zu viel tieferen Preisen anbietet. Verärgern Sie damit die Kunden nicht, wenn sie es nachträglich merken?


Wir sprechen mit den Formaten books.ch und storyworld.ch nicht die gleichen Kundenbedürfnisse an. Das Internetportal books.ch ist eng verzahnt mit unseren Ladengeschäften und orientiert sich im Serviceniveau auch an diesem Qualitätsanspruch. Es verfügt zudem über ein ausgebautes Kundenservicecenter mit Öffnungszeiten, welche sich an diejenigen unserer Ladengeschäfte anlehnen. Eine über books.ch getätigte Bestellung kann der Kunde in einer Orell Füssli-Buchhandlung seiner Wahl abholen, und er kann ausgelieferte Bücher bei Nichtgefallen auch problemlos in einer unserer Buchhandlungen retournieren. Dies sind nur einige Beispiele des Mehrnutzens von books.ch. Unser Internetportal storyworld.ch bietet prompte Lieferung von Büchern und Medien zu einem sehr attraktiven Preis, existiert aber nur im Internet und verzichtet auf viele Extras.


Welches Potential sehen Sie noch im Internet-Geschäft und welche Strategien verfolgen Sie?


Heute wird in der Schweiz rund jedes sechste Buch im Internet gekauft. Wir erwarten, dass in vier bis fünf Jahren jedes vierte Buch im Internet bezogen wird. Das Potential dieses Vertriebskanales ist somit gross, und Orell Füssli wird dieses Segment sehr gezielt und konsequent bearbeiten.


Die vor zwei Jahren eröffnete OF Buchhandlung an der Spitalgasse Bern läuft nicht gut und wird deshalb demnächst schon wieder geschlossen. Was lief falsch?


Wir haben die Buchhandlung an der Spitalgasse im November 2008 in der Überzeugung eröffnet, dass ein Bedürfnis nach einer gut sortierten und übersichtlichen Buchhandlung an zentralster Passantenlage, geführt von einem kompetenten und zuvorkommenden Team, bestünde. Die Buchhandlung war als Gegenpol zu den beiden sehr grossen, teilweise aber für einen Kunden auch unübersichtlichen Ladengeschäften von Thalia konzipiert. Aus der Kombination mit dem Musikhaus Krompholz versprachen wir uns zudem eine Anziehungskraft für ein literarisch und musikalisch interessiertes Publikum.


Im Rückblick haben sich diese Einschätzungen als falsch erwiesen. Die Synergien mit dem Musikhaus Krompholz sind praktisch ausgeblieben. Eine von uns durchgeführte Kundenumfrage hat ergeben, dass die Berner Buchkäufer ihre Kompetenzvermutung primär an die Grösse der Buchauswahl knüpfen und somit die Grösse des Ladengeschäftes in der jeweiligen Einkaufszone entscheidend ist. Diese Erkenntnis hat uns zum Schliessungsentscheid bewogen.


Sind derzeit weitere Filiale-Eröffnungen geplant?


Wir eröffnen im 2011 eine Buchhandlung im Flughafen Zürich und eine weitere im Einkaufszentrum Rosenberg bei Winterthur. Zudem erweitern wir Anfang 2011 unser Hauptgeschäft in Zürich und unterziehen unsere Grossbuchhandlung Winterthur einer Kompletterneuerung.


Die OF-Kundschaft setzt sich zu zwei Dritteln aus Frauen zusammen. Liest Mann wenig oder kauft Frau ein?


Wohl eine Kombination von beidem. Bücher für den Eigengebrauch werden im Regelfall selber eingekauft, und hier trifft es zu, dass Frauen eine grössere Affinität zum Buch haben als die meisten Männer. Auch im für uns wichtigen Segment des Kinderbuches ist es primär die Mutter, Grossmutter, Tante oder Gotte, welche ein Buch für das Kind aussucht. Das Buch ist aber auch ein nach wie vor beliebtes Geschenk, da es eine hohe Wertigkeit zu einem verhältnismässig tiefen Preis aufweist. Geschenke werden in Paar- und Familienhaushalten in der Regel eher von Frauen ausgesucht, was den hohen Anteil an weiblicher Kundschaft erklärt.


Welche Bücher interessieren Sie?


Mich interessieren besonders spezifische Themen im Zusammenhang mit der Natur oder dem Sport. Ab und zu lese ich auch gerne einen Roman. Nicht zu Ende gelesen habe ich den «Schwarzen Schwan» von Nassim Nicholas Taleb, obwohl er spannend ist. Das Buch liegt nun seit gut einem Jahr auf meinem Nachttisch.


Warum haben Sie diesen Bestseller über die Auswirkungen von unwahrscheinlichen Ereignissen auf die Welt und die Finanzmärkte nicht fertig gelesen, wo Sie ihn doch spannend fanden? Haben Sie als CEO zuwenig Zeit zum Lesen?


Sie treffen den Nagel auf den Kopf. In meiner spärlichen Freizeit, welche ich gerne sehr aktiv verbringe, kommt das Lesen häufig zu kurz.





Der Gesprächspartner:
Michel Kunz (51) arbeitet seit Anfang Mai 2010 für die Orell Füssli Holding. Seit 1. Juli 2010 ist er Holdingchef. Davor war der diplomierte Elektroingenieur ETH während 15 Jahren bei der Schweizerischen Post beschäftigt, zuletzt als CEO. Er ist verheiratet und hat zwei erwachsene Töchter.

Die Unternehmung:
Die Orell Füssli ist als internationale Industrie- und Handelsgruppe fokussiert auf die Kerngeschäfte Banknoten- und Sicherheitsdruck, Industriesysteme zur Individualisierung von Wertdokumenten und Markenprodukten (Atlanic Zeiser) sowie den Buchhandel. Der Buchverlag bildet die traditionsreiche Basis des Unternehmens mit Sitz in Zürich. Orell Füssli erzielte 2009 mit rund 1000 Mitarbeitenden an Standorten in 10 Ländern einen Umsatz von CHF 306,3 Mio. Dies entspricht einem Rückgang um 17% gegenüber Vorjahr. Währungsbereinigt verringerte sich der Umsatz der fortgeführten Geschäfte um 13%. Das Betriebsergebnis der Orell Füssli Gruppe reduzierte sich auf CHF 23,1 Mio. Der Reingewinn lag bei CHF 14,7 Mio.

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