Migrosmuseum: Dawn Mellor
Dabei nimmt die Künstlerin (geboren 1970 in Manchester, lebt und arbeitet in London) selber oftmals die Rolle eines besessenen Verfolgers ein. Durch die sich selbst gegebenen «Mal-Rollen» zerschlägt Mellor die von der Massenunterhaltung kommunizierten moralischen Codes und steht für eine reflektierte Immoralität ein. Dabei stellt sich angesichts der obsessiven Bildwelten auch immer wieder die Frage nach dem eigenen normierten Geschmack des Betrachters und dessen Überprüfung. Mellors Malstil nährt sich gleichsam aus dem Surrealismus, der Farbigkeit von Pop Art und dem intendierten schlechten Geschmack eines Joe Coleman. In ihrer ersten institutionellen Präsentation in der Schweiz zeigt die Malerin unter anderem den über 120-teiligen Porträtzyklus Vile Affections (2007-2008) sowie mehrere neue grossformatige Arbeiten, Zeichnungen und eine Wandmalerei.
Obsessives Stalking
Der wahnhafte Fan oder auch Stalker genannt, der nicht mehr von seinem Objekt der Begierde lassen kann, ist eine Figur, die in Mellors Arbeiten einen festen Platz einnimmt. Den Ausgangspunkt für ihre Gemälde bilden durchweg Prominente und Berühmtheiten, Idole und Ikonen aus den verschiedensten Bereichen und Epochen, die sie oftmals einer grotesken Dekonstruktion unterzieht, diese narrativ neu kontextualisiert und mit neuen Symboliken und Ikonografien versieht. Die Künstlerin selber nimmt dabei verschiedene Stalker-Rollen ein und macht deutlich, welche unterschiedlichen Funktionen dem Star zugeordnet werden können: als Familienmitglied, Geliebtem, Feind oder Objekt delinquenter Sexualität. Das Malen und Zeichnen aus dieser fiktiven Rollengebung heraus ist ein performatives Malkonzept, das auch eine intellektuelle Distanz zwischen Subjekt und Objekt herstellt.
In Mellors 2007 begonnener Porträtserie Vile Affections tauchen neben Musikstars wie Britney Spears und Michael Jackson oder Filmdiven wie Elizabeth Taylor und Audrey Hepburn ausserdem Persönlichkeiten aus der Politik wie Barack Obama, Tony Blair oder Margaret Thatcher auf, aber auch Intellektuellenstars wie Julia Kristeva oder Lifestyle-Ikone Anna Wintour. Die Prominenten, die Mellor aufgreift, sind meist Medienstars mit einer signifikanten kulturellen Bedeutung. Sie erfüllen Rollen, Klischees, repräsentieren Typen und stehen für Standpunkte, Weltanschauungen, Moden, Stile. Dass die Engländerin Mellor dabei an die Geschichte der Porträtmalerei anknüpft, die gerade in England seit der Neuzeit eine grosse Tradition hat, liegt auf der Hand. Zusätzlich wird diese Bezugnahme unterstrichen durch eine historisch anmutende Salonhängung der über 120 Porträts, die das einzelne Bild, dicht an das nächste gedrängt, in einen Gesamtkomplex einbindet und eine widersprüchliche Gesamterscheinung kreiert, die zwischen Belustigung, Anbetung und Ekel oszilliert. Seien es ausgestochene Augen, Schnittwunden, abgetrennte Gliedmassen oder immer wieder die sexuelle Penetrierung – Mellors «Hall of Fame» kippt wiederholt in eine «Hölle des Schönen». Letztlich knüpft Mellor damit an das Konzept des grotesken Körpers an, der gerade im Mittelalter und der Renaissance zur zentralen Chiffre einer populären Lachkultur wurde: ein Körper, der das Verfallene und das neu gezeugte Leben in einer innerlichen Prozesshaftigkeit vereint und sich durch seine Unabgeschlossenheit auszeichnet. Vile Affections erinnert unweigerlich an mittelalterliche Aufführungen, die dem Publikum ermöglichten, sich über obszöne Gesten und Spässe sowie über kritisch-parodistische Imitationen von Personen verschiedener Stände und unterschiedlicher Herkunft in der Öffentlichkeit lustig zu machen. Der groteske Körper kann so auch als Volkskörper beschrieben werden, der durchaus ein utopisches Potenzial in sich trägt.
Multiplikation von Vorstellungen bis zum Overload
Mit ihrem 2006 begonnenen grossformatigen Dorothy-Zyklus – Protagonistin dieser Serie ist die Filmfigur Dorothy Gale, gespielt von Judy Garland, aus dem Film The Wizard of Oz (1939) – setzt Mellor ihre Untersuchung von massenmedialer, popkultureller Ikonografie und Mythologie sowie deren Wirkung auf stereotype Gesellschaftsmuster fort. Sie macht sich dabei die Multicodierung der Figur zu Nutze: War im Film die Figur Dorothy eine gutbürgerliche Allegorie auf das «weisse» Erwachsenwerden, verschmolz diese später mit der Realfigur Judy Garland, die mit ihren Drogenexzessen Schlagzeilen machte, und wurde zu einer Ikone der Homosexuellenbewegung. Mellor multipliziert diese voneinander abweichenden Vorstellungen: In ihren Bildern lässt sie die Figur weiterwachsen, schliesst einerseits die komplexe Rezeptionsgeschichte, andererseits die Film-Ikonografie ein und bildet neue Erzählungen. Dabei oszilliert Dorothy in Mellors grauenerregender Bildwelt parabelhaft zwischen Opfer und Täterin, zwischen Ausbeuterin und Ausgebeuteter – sei es einmal als Trümmerfrau, die goldene Ziegelsteine durch düstere Strassen karrt, oder als Anführerin einer Legion goldener Totenkopfhybride. (mm/mc/th)