Die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten führen den in den 1990er-Jahren eingeleiteten Crossover mit einem neuen Bewusstsein weiter und zeigen die Hybridität und Verschiedenheit dieser Formen.Eine gemeinsame Geschichte von bildender Kunst und Musik sowie die Versuche zur Visualisierung von Musik sind nicht erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein Thema ? mit Pionieren wie Wassily Kandinsky (1866?1944) oder Paul Klee (1879?1940) in der Malerei, Walter Ruttmann (1887?1941) oder Dziga Vertov (1896?1954) in der Film-Avantgarde. Bereits im 18. Jahrhundert unternahm Pater Louis-Bertrand Castel (1688?1757) den Versuch, ein Farbenklavier zu konstruieren. Später hielt Johann Wolfgang Goethe (1749?1832) in seiner Schrift über die Farbenlehre seine Beobachtungen über das Zusammenspiel von Farbe und Ton fest. Für die deutsche Film-Avantgarde der 1920er-Jahre war dabei das Ziel, eine Form von Malerei zu schaffen, die von ihrer statischen Zweidimensionalität gelöst und in die vierte Dimension tradiert wurde. Diese «Augenmusik» bildete eine Einheit von Bild-und-Ton-Informationen und kann als Nährboden für die Entwicklung von umfassenden audiovisuellen Erlebnissen im Raum gesehen werden.
Nach dem 2. Weltkrieg wurden solche experimentellen Hybridisierungen durch das modernistische Gewissen der Kunstkritik, die eine strikte Trennung der ästhetischen Kategorien proklamierte, ablehnend beurteilt. Mit den Leitfiguren John Cage (1912?1992), Yoko Ono (*1933) oder George Brecht (*1926) kam Mitte des 20. Jahrhunderts der Konvergenz von bildender Kunst und Musik unter dem Aspekt des Performativen und dem Einsatz des Körpers eine neue Bedeutung zu. Ab Mitte der 1990er-Jahre, als man sich nach neuen Präsentationsformen und Wirkungsfeldern für die bildende Kunst sehnte, wurde die Musik unter dem Stichwort des Crossover vor allem über die Pop- und DJ-Kultur wieder aufgegriffen. Die Ausstellung schliesst sich der Tradition dieser Experimente und deren Fragestellungen an, greift jedoch neue Tendenzen auf, die in Zusammenhang mit der Diskussion um Skulptur versus Installation, Sound und Performance steht.
Im Zentrum die Synästhesie
Mit seiner Lichtorgel Untitled (2005) nimmt Peter Coffin (*1972) die Tradition Louis-Bertrand Castels auf, indem er dem Rezipient ein synästhetisches Erlebnis zu ermöglichen sucht. Jedem Ton auf dem Instrument wird eine Farbe zugewiesen, woraus sich innerhalb einer Oktave ein ganzes Farbenspektrum formuliert. Beim Orgelspiel wird die der Melodie entsprechende Farbkomposition in einer Skulptur in Form des Empire State Building projiziert. Die Arbeit thematisiert das Phänomen Synästhesie, die erst seit den 1990er-Jahren ernsthaft erforscht wird. Auch der Komponist Olivier Messiaen (1908?1992), selber Synästhetiker, beschäftigte sich in seinen Kompositionen und Schriften obsessiv mit den «Übersetzungen» von Farben, Tönen und der Natur entnommenen Geräuschen in artifiziell erzeugte Klänge. Als Ausgangspunkt für
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die konzeptuelle Arbeit Dave Allens (*1963) steht Messiaens Klavierkomposition Catalogue d?Oiseaux (1956?1985), die auf der Basis gesammelter Vogelgeräusche entstand. Allen nimmt in seiner Arbeit eine «Rückübersetzung» vor und beschallt zwei Spottdrosseln ? bekannt für ihre Lernfähigkeit ? mit dem Catalogue d?Oiseaux. Am Ende der Ausstellung sollen die Spottdrosseln die Komposition ? oder zumindest Fragmente davon ? zwitschern können. Eine künstlerisch-wissenschaftliche Transposition von natürlichen Klängen in elektronische vollzieht sich auch in der Arbeit von Mileece* (*1978). Eine mit Elektroden versehene, skulptural angeordnete Pflanzengruppe bildet die Datenquelle für ihren Sound. Die gewonnenen Daten, die auf eine mögliche Kommunikationsform der Pflanzen schliessen lassen, werden anhand eines selbst konzipierten Programms in Klang umgesetzt. Ebenfalls einer wissenschaftlichen Versuchsanordnung gleicht die Arbeit Sinfonia Torinese (2003/04) von Paul Etienne Lincoln (*1959), der komplexe Mikrokosmen entwirft, die von fantastischen Maschinen und enigmatischen Instrumenten bevölkert werden. Sinfonia Torinese ? eine Hommage an die Stadt Turin ? ist ein kompliziertes Gebilde aus verschiedenen Objekten: Flaschen, Destilliergeräte und kuriose Gegenstände sind auf ein Piano ausgerichtet, das jedoch nicht mit Tasten, sondern mit einer Lochkarte betrieben wird.
All Is Full of Love
In Chris Cunninghams (*1970) Musikvideo All Is Full of Love (1999), das er gemeinsam mit der Sängerin Björk (*1965) realisierte, wird eine Maschine ins Zentrum gestellt, die nicht nur sich selbst reproduzieren kann, sondern als autonomes Subjekt zugleich ein liebendes, singendes und beseeltes Wesen ist. Zwei asexuelle Cyborgs befinden sich im Liebesakt ? während sie gleichzeitig überhaupt erst durch andere Maschinen ins Leben gerufen werden. Cunninghams Faszination für die Verschmelzung von Technik und Lebendigem prägt sein gesamtes Schaffen und tritt in diesem Video, das trotz seines virtuellen Charakters dem Betrachter ein skulpturales Sehen abverlangt, besonders markant in Erscheinung. Die Arbeit Jump on Me (2005) ? eine vierteilige Videoprojektion mit einer Tischskulptur von Rita Ackermann (*1968) und Agathe
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Snow (*1976) ? widmet sich dem menschlichen Körper unter entgegengesetzten Vorzeichen: Hier werden nicht artifizielle Körper vermenschlicht, sondern der roboterhaft anmutende menschliche Körper thematisiert. In einem unscharfen, in tiefrote Töne getauchten Setting prallt ein Körper in postmoderner tänzerischer Art und scheinbar endloser Wiederholung auf den anderen ? beide in geschlechtsneutralisierende Ganzkörperanzüge gekleidet. Während der eine versucht, auf sein Gegenüber zu springen, mit ihm zu verschmelzen, verweigert sich der andere dieser Geste. Die Musik von Michael Portnoy (*1967) erweitert die Tanzsequenz zu einem sogartigen Ritual von Verlangen und Ablehnung. Mit seiner Dancefloor-Skulptur, die an das 1950er-Jahre-Design angelehnt ist, thematisiert Seb Patane (*1971) das Verhältnis von Musik und Körperkultur auf theatralische Weise. Seit dem Einzug elektronischer Musik und der Klubkultur ist das Tanzen als Tätigkeit in einer anonymen Masse zu einem Hochleistungsakt mit Fitnesscharakter geworden. Bereits mit seinen Zeichnungen, die auf Abbildungen aus «Theaterklatsch-Magazinen» um die Jahrhundertwende basieren, deutet sich dieses Interesse für den anonymen, theatralisierten Körper an. Delia Gonzalez (*1972) und Gavin R. Russom (*1974), die auch Musiker sind, versuchen mit ihren selbst gebauten Synthesizern, eine Analogie zwischen Sound und modernistischer Architektur zu bilden. Für die Ausstellung werden sie eine raumfüllende Skulptur produzieren, die sich auf die Zürcher Dadaisten-Bewegung bezieht und einem dekonstruktivistischen Bühnenbild ähnelt. Mit seinen schwarz glänzenden New-Gothic-Skulpturen greift Banks Violette (*1973) sowohl auf der formal-ästhetischen als auch auf der inhaltlichen Ebene die Ikonografie von Heavy Metal auf. Er exemplifiziert die in den Subkulturen der Black-Metal-Musik inszenierte Symbolik von Tod und Verfall, die zwischen Schönheit und Grausamkeit oszilliert. (mm/mc/th)
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Essays von Raphael Gygax, Heike Munder und weiteren Textbeiträgen.
Öffentliche Führungen: 12. Februar, 5. und 26. März, 15 Uhr, sowie Donnerstag, 16. März, um 18.30 Uhr
Öffnungszeiten. Di / Mi / Fr 12?18 Uhr, Do 12?20 Uhr, Sa / So 11?17 Uhr
migros museum für gegenwartskunst, Limmatstrasse 270, 8005 Zürich
Das migros museum für gegenwartskunst ist eine Institution des Migros-Kulturprozents.