Museum Tinguely: Max Ernst – Im Garten der Nymphe Ancolie

Manchmal sind die grössten Bilder die Unbekanntesten. Die Wandmalerei, welche Max Ernst im Sommer 1934 für das Dancing Mascotte im Corso-Theater am Zürcher Bellevue realisiert hat, misst immerhin 415 x 531 cm. Jahrzehntelang dienten die Pétales et jardin de la nymphe Ancolie, fleischrote Blüten auf grünen Blättern im schwerelosen Raum, als Lust bringender Hintergrund für tanzende Paare. Wegen Beschädigungen im unteren Bildteil wurde der Hintergrund zweimal schlammgrau übermalt und das Ganze gefirnisst, bevor das üppige vegetabile Gelage entfernt und in Tafeln zerlegt dem Kunsthaus Zürich anvertraut wurde.


Live von Grau zu Hellblau
Nun wird das für das Schaffen von Max Ernst (1891-1976) nicht nur wegen seinen Dimensionen zentrale Werk endlich restauriert. Die Ausstellungsbesucher werden die Metamorphose der einzelnen Bildtafeln von grau zu hellblau vor Ort in einem speziell eingerichteten Schauatelier erleben können, und damit die Entstehung und Erscheinung eines verwandelten Auftritts. Die Restaurierung wird auch jene Teile besser sichtbar machen, die Max Ernst einer stark vergrössert umgesetzten und auf den Kopf gestellten Illustration aus einem botanischen Lexikon des 19. Jahrhunderts beigefügt hat. Insbesondere ein nacktes Frauenbein in der unteren rechten Bildzone, das lineare Pendant einer Hand sowie Gebilde in der «obersten» Etage, welche Max Ernsts Alter Ego, seine Vogel-Inkarnation Loplop andeuten. Der Gartenfreund tritt in ein biomorphes Geschehen ein. Hinter den Blüten und Blättern und einem gelben, vogelartigen Tanzelement darf er jene in der Weltliteratur noch unerweckte Nymphe vermuten, der Max Ernst das «Mel» abgezwickt hat, um sie lebensfreundlicher zu taufen.


Unsere thematische Ausstellung stellt das wiedergeborene Wandbild ganz ins Zentrum. Der darin zentrale Aspekt der Mischung von pflanzlichen, tierischen und menschlichen Lebewesen. Weitere Bilder, Collagen, Zeichnungen und Frottagen (wie aus der Histoire Naturelle) leiten das Thema ein, andere lassen es bis ins Spätwerk ausklingen.


Rückblick
Nach des Künstlers militanter Dada Zeit in Köln in den beginnenden 1920er Jahren und seiner Übersiedlung nach Paris kehrten die Freuden des Lebens in ein Werk zurück, das wie ein Seismograph auf die Krisen der Kriege und Revolutionen, aber auch die Versprechen/Verheissungen des Eros, das Glück der Liebe, den Frieden und die Gelassenheit der Erdgeschichte reagierten.


Paradiese und Untergänge


Seit der kompletten Ausmalung seines mit Gala Éluard bewohnten Hauses in Eaubonne (1923/24) bewegte sich Max Ernst auf der Suche nach jener Göttin «Gradiva», die von Sigmund Freud bis André Breton die Wunschträume der Männerwelt anregte. Bevor vor dem zweiten Weltkrieg wieder die Chimären, Barbaren und Todesengel in seine Bilderwelt einbrachen, erfreute sich der Künstler an den Wonnen der Natur, der vegetabilen Harmonie, den Lüsten der Verführung, dem Nirwana der Hingabe. Alles ist Zauber, alles heiteres Spiel, «Joie de vivre». Selten hat ein Künstler in seinem Unbewussten so frei wandeln können.


Bald jedoch mischen sich wieder Störenfriede ins Idyll: Fleischfressende Pflanzen fallen über Flugzeugteile her (Jardin gobe-avions), und ganze Städte (Ville entière) werden von wild wuchernden Wäldern verschlungen.


Aus den Gärten der Hesperiden und der Joie de vivre – Mittagshelle vertrieben, überlebt ein Sumpfengel im Dickicht, das grossartige Chant du soir singt in der Dämmerung, über dem Rhein bricht tiefe, düstere Nacht ein (Nuit rhénane, 1944). So pendelt Max Ernsts Werk seiner Biografie entsprechend zwischen den Metamorphosen der Lust und dem Trauerspiel der europäischen Geschichte und lotet assoziativ neue Erfahrungsräume der menschlichen Existenz aus.


Erste grosse Ausstellung in der Schweiz seit 1963


Max Ernst war der Schweiz (von der Familie Giacometti zu Meret Oppenheim zu den Giedions) und ihrem (Basler) Fluss in Vielem eng verbunden, sein letztes grosses Selbstporträt verschmilzt im Vater Rhein (1953, Kunstmuseum Basel). Auch diese Wirkungsgeschichte möchten wir sichtbar machen, wie selbstredend die mannigfachen Relationen zu Jean Tinguely, welcher den grossen «Dadamax» verehrte und mit «Hommagen» würdigte. (mt/mc/th)

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