Zeichnungen sind deshalb für viele Künstler/innen auch beliebte Mittel, um erst einmal festzuhalten, was später ? zum Beispiel in einem Gemälde oder in einer Skulptur ? ausgearbeitet werden soll.
Gerade im zeitgenössischen Schaffen sind Zeichnungen als sinnliches und direktes Medium jedoch viel mehr als blosse Vorarbeiten für grössere, bedeutendere Werke. In der Ausstellung «Vom Schweifen der Linien» zeigt das Seedamm Kulturzentrum 33 Schweizer Künstlerinnen und Künstler, die sich die Spontaneität, die der Zeichnung eignet, das (vermeintlich) unverbindliche, spielerische Moment zu Nutze gemacht haben, um sich frei übers Blatt zu bewegen, bisweilen auch über den Rand auf die Wände bis in den Raum hinaus, und mit Linien, Strichen, Punkten, Schraffuren eine Leichtigkeit zu erzeugen, die glauben lässt, hier sei alles nur hingetupft, gehaucht und filigran vernetzt. | Teilnehmende Künstler/innen: Giro Annen, Ueli Berger, Raffaella Chiara, Christian Denzler, Monika Dillier, Franziska Furter, Marcel Gähler, Monica Germann / Daniel Lorenzi, Ingo Giezendanner, Mariann Grunder, Nic Hess, Aurelio Kopainig, Dominique Lämmli / koorder, Zilla Leutenegger, Klaus Lutz, Valentin Magaro, Thomas Müllenbach, Claudia und Julia Müller, Karim Noureldin, Vaclav Pozarek, Peter Radelfinger, Markus Raetz, Didier Rittener, Mario Sala, Katja Schenker, Sehbüro, Loredana Sperini, Annette Ungar, Judit Villiger, Nina Weber, Anna Barbara Wiesendanger, Irène Wydler, René Zäch |
Die Monumentalität der Zeichnung
Ab und an schwingt der Zeichenstift auch weit in den Raum oder besetzt mit robuster Bestimmtheit das Blatt bis zur beinahe monumentalen Präsenz. Dass die Zeichnung dabei aus der Bewegung entsteht und die Gestik der zeichnenden Hand unmittelbar präsent bleibt, zeigt sich nicht zuletzt dort, wo das Fliessen des Stiftes übers Blatt im Video umgesetzt ist, wo sich der animierte Strich in beständiger Wandlung in immer neuer Form erfindet, sich windet, kringelt, überschäumt vor erzählerischer Leidenschaft.
Auf die Räume bezogen
Viele der Arbeiten sind dabei ‹in situ›, in Auseinandersetzung mit dem Ort entstanden, als raumgreifende Konzepte, bei denen die Linien buchstäblich ausschweifen und von der Architektur des Museums temporär Besitz ergreifen. So entstehen etwa auf den beiden grossen Stirnwänden des geschwungenen Altbaus des Seedamm Kulturzentrums Arbeiten von Claudia und Julia Müller, bzw. Ingo Giezendanner, im Auditorium eine Videoarbeit von Dominique Lämmli in Zusammenarbeit mit koorder (Matthias Berger und Till Hänel) und in einer Koje eine mit animierten Bildern vernetzte Wandzeichnung von Aurelio Kopainig.
Die Schönheiten des Zarten
Doch nicht nur Wände füllenden räumlichen Arbeiten begegnen wir in der Ausstellung, vielfach schweifen die Linien auch in mikroskopisch verästelte Strukturen, zeigen sich in seriellen Miniaturen oder in grossflächigen, minutiös bearbeiteten Bildern. Marcel Gählers winzige Ansichten gespenstisch anmutender «Un-Orte» sind so akribisch ausgeführt, dass sie jeglicher Vorstellung leichthändig hingeworfener Linien widersprechen. Franziska Furter zeichnet ihre düster-brodelnden Lavaströme mit einer Präzision, die höchst geduldiges Arbeiten erfordert.
Das «Zeichnerische» schlechthin aber orten wir gerne dort, wo Präzision auf Schnelligkeit der Ausführung trifft. Die Linie, die in einem Moment absoluter Konzentration aufs Blatt gebracht wird und entweder gelingt oder verworfen werden muss, fasziniert in ihrer Kompromisslosigkeit. Wir sehen in der Ausstellung diese Haltung in vielen Arbeiten vertreten, so bei Katja Schenker, die ihre reduzierten Linien mit gespannter Aufmerksamkeit in fast atemloser Schnelligkeit aufs Blatt bringt, bei Thomas Müllenbach, der scharfe Beobachtungen lakonisch auf den Punkt bringt oder bei Loredana Sperini, die vermeintlich manierliche Porträts geradezu explodieren lässt. Eine wichtige Position nimmt die Zeichnung auch im Werk skulptural arbeitender Künstler/innen ein ? und dies nicht nur als Vorskizzen im Hinblick auf auszuführende räumliche Arbeiten, wie beispielsweise René Zäch zeigt, der aus Ideen für mögliche Skulpturen in seinen Zeichnungen verspielt wirkende Maschinerien generiert.
Die Spantanität der Linie
Bei den vielen Facetten, welche die gezeigten Arbeiten umfassen, soll in der Ausstellung hauptsächlich zum Ausdruck kommen, dass die Zeichnung als unmittelbares, sinnliches und direktes Medium heute von vielen Künstlerinnen und Künstlern als Experimentierfeld begriffen wird, bei dem nicht zuletzt auch die Grenzen des Genres ausgelotet werden. Das Schweifen der Linien, ob weit hinaus in den Raum oder in die feinsten, filigransten Verästelungen, erweist sich als überaus präzises Instrument, um Empfindungen und Beobachtungen schwerelos erfahrbar zu machen. (skz/mc/th)