Urs Winkler, CEO World Vision Schweiz
von Patrick Gunti
Herr Winkler, wirtschaftlich schlechte Zeiten verunsichern die Menschen, und oft bekommen soziale Hilfswerke dies stark zu spüren, weil diese Verunsicherung zu einem Rückgang der Spenden führt. Haben Sie bei World Vision Schweiz bereits eine solche Tendenz feststellen müssen?
Wir sind sehr dankbar, dass wir auf äusserst treue Spender zählen dürfen. Viele von unseren Spenderinnen und Spendern unterstützen unsere Arbeit über mehrere Jahre. So bewegen sich unsere Einnahmen in Bezug auf die Finanzkrise im gleichen Rahmen wie im Jahr zuvor.
2007 konnte World Vision Zuwendungen von 48,4 Mio. Franken verbuchen. Welches Resultat erwarten sie für das laufende Jahr und – unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Lage – für das kommende Jahr?
Wir verzeichnen einen leichten Rückgang für das laufende Jahr. Dies betrifft vor allem den Bereich Sachspenden, da es im vergangenen Jahr zu weniger Verteilaktionen vom Welternährungsprogramm der UNO (WFP) gekommen ist. Für das kommende Jahr rechnen wir damit, dass es schwieriger werden wird, neue regelmässige Spenderinnen und Spender zu gewinnen.
World Vision ist sehr präsent in der Informationsarbeit und Mittelbeschaffung. Planen Sie, diese Aktivitäten in näherer Zukunft aufgrund einer eventuell nachlassenden Spendefreudigkeit zu intensivieren?
Wir planen keine Intensivierung, jedoch eine geografische Ausweitung unserer Aktivitäten in die Westschweiz. Dieser Schritt ist aber schon länger geplant.
«Wir kämpfen als Organisation mit aller Kraft dagegen an, dass die am schwersten von den Krisen gebeutelten Menschen in Vergessenheit geraten.»
Über 850 Mio. Menschen weltweit sind unterernährt, 9 Mio. Kinder sterben jährlich an behandelbaren oder vermeidbaren Krankheiten, Kriege wie derzeit im Kongo oder Unwetterkatastrophen kosten Zehntausende Menschen das Leben oder machen sie obdachlos. Wie gehen Sie damit um, dass sich solch entsetzliche Fakten in Zeiten wie diesen noch viel schwerer ein allgemeines Bewusstsein verschaffen können?
Wir kämpfen als Organisation mit aller Kraft dagegen an, dass die am schwersten von den Krisen gebeutelten Menschen in Vergessenheit geraten. Viele Leute sind bereit, etwas dagegen zu tun. Wir wollen aber noch mehr Mittel für die Projekte bereitstellen können. Es kann auch nicht sein, dass Spenden ein Luxus ist, den man sich nur in guten Zeiten leistet. Wir sind alle verantwortlich für unsere Nächsten, vor allem gerade in schlechten Zeiten. Dies ist die Hauptaufgabe unserer Anwaltschafts- und Sensibilisierungskampagnen.
World Vision setzt sich auf verschiedener Ebene für notleidende Menschen ein. Am bekanntesten sind die Patenschaften für Kinder. Was ermöglicht die Übernahme einer Patenschaft für ein Kind, die 50 Franken im Monat kostet, dem Kind, seiner Familie und der Gemeinschaft, in dem es lebt?
Der Patenschaftsbeitrag von 50 Franken pro Monat ermöglicht einem Kind bessere Lebensbedingungen, weil sein Umfeld durch die Aktivitäten im Projekt positiv verändert wird. World Vision arbeitet deshalb seit Jahren mit dem Ansatz des Regionalen Entwicklungsprojekts. Im Rahmen dieser Projekte wird eine ganze Region in 10-15 Jahren in vielen Bereichen positiv verändert. Die konkreten Aktivitäten sind von Land zu Land verschieden, aber immer auf das Wohl der Kinder fokussiert. Grundsätzlich sollen die Grundbedürfnisse der Kinder abgedeckt und ihre Rechte durchgesetzt werden, d.h. unter anderem ausgewogene Ernährung, sauberes Wasser, eine verbesserte Gesundheitsversorgung und den Ausbau des Schulsystems.
Wie viele Paten gibt es derzeit in der Schweiz?
Rund 60’000 Patinnen und Paten unterstützen über 67’000 Patenkinder.
Und weltweit?
Weltweit sind rund 3,4 Millionen Kinder in Patenschaftsprogrammen von World Vision eingebettet. Die Zahl der Paten liegt etwas darunter, da einige auch mehrere Patenkinder unterstützen.
Wie werden die entsprechenden Kinder ausgesucht?
Ist die Planungsphase für ein Projekt abgeschlossen, wird zusammen mit dem lokalen Komitee ein Kriterienkatalog erarbeitet, wonach die Patenkinder ausgewählt werden. Wichtige Kriterien sind unter anderem der Aspekt Armut sowie die Familiensituation. In der Regel werden Kinder aus ärmeren Familien ausgesucht. Auch wenn die Patenkinder und ihre Familien nicht direkt finanziell von der Patenschaft profitieren, können sie so intensiver in das Gesamtprojekt eingebunden werden. Dies geschieht durch regelmässige Besuche von World Vision-Mitarbeitenden. Selbstverständlich werden nur Kinder ins Patenschaftsprogramm aufgenommen, wenn ihre Eltern damit einverstanden sind.
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Neben den Patenschaften hat World Vision Sonderprojekte und betreibt Not- und Katastrophenhilfe. Wie sieht hier das Engagment der Organisation aus?
Viele Probleme erfordern eine vertiefte Art der Projektdurchführung, mit Einsatz von Spezialisten. Dabei kann eine bestimmte Gruppe von Betroffenen gezielt von Massnahmen profitieren, wie Strassenkinder (z.B. in der Mongolei) oder Mädchen (z.B. Brasilien). Weil sich hier der Staat zu wenig um diese Problematik kümmert, greifen Hilfswerke wie World Vision ein und ermöglichen es diesen Kindern, ein besseres Leben zu haben. Wir versuchen, langfristige Lösungen anzustreben, was auch viel Lobbyarbeit bei den Regierungen bedeutet.
Im Bereich Not- und Katastrophenhilfe verfügt World Vision International über ein Expertenteam, dass innert 48 Stunden die Mitarbeiter vor Ort unterstützen kann. World Vision Schweiz finanziert die Nothilfe mit. Im Bereich der Nahrungsmittelhilfe arbeitet World Vision eng mit dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) zusammen. World Vision organisiert dabei als grösster Nichtregierungspartner des WFP die Verteilung der Notgüter. In Zusammenarbeit mit dem Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) betreibt World Vision Flüchtlingslager und hilft bei der Organisation und Umsetzung von Rückführungsprogrammen.
World Vision Schweiz ist Teil von World Vision International. Wie ist World Vision Schweiz mit der internationalen Organisation einerseits, und mit anderen Hilfswerken andererseits, vernetzt?
World Vision Schweiz arbeitet seit 26 Jahren als unabhängiger Verein, der in der Schweiz als gemeinnützig anerkannt ist. Wir gehören zudem einer internationalen Partnerschaft an. Dank dieser globalen Vernetzung sind wir in der Lage, mit den lokalen Partnern effektive und effiziente Unterstützung in einer Ausnahmesituation in einem Land zu bieten. Über 96% unserer internationalen Mitarbeitenden sind Einheimische, welche mit den lokalen Gegebenheiten vertraut sind.
Auch in der Schweiz ist World Vision gut vernetzt. Zusammenarbeit ist wichtig, denn gemeinsam hat man ein grösseres Gewicht und eine lautere Stimme. World Vision Schweiz ist in verschiedenen Allianzen und Fachstellen vertreten, so ist das Hilfswerk beispielsweise Mitglied beim Kompetenzzentrum Friedensförderung, bei aidsfocus.ch, Allianz gegen Hunger und dem Fraueninformationszentrum. Diese Aufzählung ist nicht abschliessend.
Eine Gruppe unabhängiger Entwicklungsexperten hat die Transparenz in der schweizerischen Entwicklungszusammenarbeit untersucht und dabei World Vision auf Platz 1 gesetzt. Wie stellen Sie die grösstmögliche Transparenz sicher?
Der Spender muss genau nachvollziehen können, was mit seinem Geld passiert. Darum kommunizieren wir über verschiedene Kanäle, was wir wie machen. Zum Beispiel auf unserer Homepage, im ausführlichen Jahresbericht oder auch an Informationsveranstaltungen, die wir regelmässig organisieren. World Vision Schweiz verfügt seit mehreren Jahren über die ISO 9001-Zertifizierung sowie das NPO Label für Management Excellence. Unser Qualitätsmanagement-system hilft uns, in diese Richtung weiter zu arbeiten.
Letzte Frage: Was würden Sie als die grösste Herausforderung in Ihrer täglichen Arbeit bezeichnen?
Die Gleichgültigkeit vieler Menschen in den reichen Nationen. Wir alle stehen in der Verantwortung, uns im Rahmen unserer Möglichkeiten für Benachteiligte einzusetzen. Sei es mittels Spenden für die Armen und Bedürftigen oder durch Veränderungen in unserem Konsumverhalten. Es wird oft verkannt, wie wichtig und wirksam der Beitrag jeder einzelnen Person tatsächlich ist.
Herr Winkler, besten Dank für das Interview.
Zur Organisation:
World Vision Schweiz ist ein christlich-humanitäres Hilfswerk. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Unterstützung von Kindern, Familien und ihrem Umfeld im Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit. World Vision leistet langfristige Entwicklungszusammenarbeit, Not- und Katastrophenhilfe sowie Bewusstseinsbildung. Der christliche Glaube ist Grundlage und Motivation der Arbeit. World Vision ist überkonfessionell und unterstützt bedürftige Menschen unabhängig von ethnischer Herkunft, Religion oder Geschlecht. World Vision Schweiz wurde 1982 gegründet und ist ein eigenständiger Teil der weltweiten World Vision-Partnerschaft. Das Hilfswerk ist als gemeinnütziger Verein anerkannt und hat seinen Sitz in Dübendorf. World Vision Schweiz unterstützt gegenwärtig rund 90 Entwicklungsprojekte in über 30 Ländern.
Zur Person:
Urs Winkler (52) ist seit 1. Juli 2005 Geschäftsführer von World Vision Schweiz. Davor arbeitete er als Vizedirektor des Bundesamts für Migration (früher Bundesamt für Flüchtlinge) und war Chef der Hauptabteilung Asylverfahren. Begonnen hat Urs Winkler seine Laufbahn an der Universität Bern, wo er Jura studierte und 1982 das Fürsprecherpatent erwarb. Anschliessend arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Justizdirektion des Kantons Bern. Von 1987 bis 1990 amtierte er als Gerichtspräsident in Thun. Ab 1990 war er für zwölf Jahre vollamtlicher Gemeindepräsident von Spiez, bevor er zum Bund wechselte. Urs Winkler ist verheiratet und hat zwei Söhne und eine Tochter. Er lebt im Berner Oberland. Er engagiert sich ausserdem als ehrenamtliches Mitglied im Strategierat der Heilsarmee Schweiz.