EU-Abkommen: Bundesrat lanciert mit Verhandlungsabschluss die Europadebatte neu
Bern – Drei Bundesräte, mehrere Staatssekretärinnen und der Chefunterhändler haben das ausgehandelte Verhandlungsergebnis mit der EU gewürdigt. Sie schauen der innenpolitischen Debatte trotz der Komplexität des Dossiers positiv entgegen. Viele Fragen sind jedoch noch offen.
Wie Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hoben auch Aussenminister Ignazio Cassis, Wirtschaftsminister Guy Parmelin und Justizminister Beat Jans die zahlreichen in den rund 200 Verhandlungsrunden gefundenen Kompromisse hervor. Den Verhandlungsteams sei es gelungen, ausgewogene Lösungen zu finden, die im beidseitigen Interesse seien, lautete der Tenor.
«Natürlich hätten wir gerne noch mehr erreicht», sagte Chefunterhändler Patric Franzen am Freitag in Bern vor den Medien. Bei beiden Seiten herrsche nach dem neunmonatigen Verhandlungsprozess die «übliche mittlere Unzufriedenheit», weil sowohl die Schweiz als auch die EU gegenseitige Zugeständnisse gemacht hätten.
Geld für Zugang
Positiv würdigte Franzen beispielsweise, dass der Service Public durch die neuen Bestimmungen nicht tangiert werde. Zudem sichere die sogenannte Non-Regression-Klausel das Schweizer Lohnschutzniveau gegen allfällige Rückschritte ab. Künftige Anpassungen oder neue Entwicklungen des EU-Entsenderechts, die das Schweizer Schutzniveau verschlechtern würden, muss die Schweiz nicht übernehmen.
Ausserdem beschränke sich die dynamische Rechtsübernahme auf die fünf Abkommen der Bilateralen I sowie die neu hinzugekommenen zu Strom und Lebensmittelsicherheit, so Franzen. Die Rechtsübernahme respektiere zudem die in der Schweizer Verfassung verankerten Verfahren.
Als Bildungsminister gab sich Parmelin erfreut über die Wiederaufnahme der Schweiz am EU-Forschungsprogramm Horizon ab Anfang 2025. «Beteiligen Sie sich fleissig an den EU-Programmen», wandte sich Parmelin an Forscherinnen und Forscher.
Aussenminister Cassis kam auch auf den Kohäsionsbeitrag zu sprechen: Mit dem Beitrag von 130 Millionen Franken pro Jahr zwischen 2025 und 2029 sowie demjenigen in Höhe von 350 Millionen Franken pro Jahr zwischen 2030 und 2036 investiere die Schweiz «in die Stabilität und den Zusammenhalt in Europa». Das stärke auch den Wohlstand und die Sicherheit in der Schweiz.
Ein Geben und Nehmen
Justizminister Jans würdigte die ausgehandelten Ausnahmen bei der Personenfreizügigkeit als Erfolg. Im Fokus steht die ausgehandelte Schutzklausel, welche die Schweiz neu eigenständig aktivieren kann. Heute braucht es dazu eine Einigung im gemischten Ausschuss. Jans sprach von einer «entscheidenden Verbesserung» gegenüber den gescheiterten Verhandlungen um ein Rahmenabkommen.
Auch bei der sogenannten Unionsbürgerrichtlinie habe die Schweiz Ausnahmen aushandeln können, sagte Jans. Für das Daueraufenthaltsrecht für EU-Bürgerinnen und -Bürger gälten anders als umgekehrt strikte Voraussetzungen. Die Personen erhalten das dauerhafte Aufenthaltsrecht nur dann, wenn sie sich fünf Jahre rechtmässig in der Schweiz aufhalten und in dieser Zeit erwerbstätig sind.
Die Schweizer Delegation habe die im Verhandlungsmandat festgelegten Ziele erreicht, fasste Cassis zusammen. Auf der anderen Seite erreichte auch die EU Fortschritte gegenüber heute: Bei den Studiengebühren müssen Schweizer Unis und Fachhochschulen künftig Schweizerinnen und EU-Bürger gleich behandeln. Um die finanziellen Einbussen zu kompensieren, prüft der Bundesrat Begleitmassnahmen.
Cassis spürt «konstruktive Unterstützung»
Nach dem Abschluss der materiellen Verhandlungen beginnt nun der innenpolitische Prozess. Dafür gebe es nun einen aussenpolitischen Rahmen, sagte Jans. Cassis forderte, dass die Arbeiten im Inland in den Bereichen Lohnschutz, Zuwanderung, Strom, Landverkehr und Studiengebühren zügig abgeschlossen werden.
Wichtig sein wird es, den Widerstand der Gewerkschaften gegen die EU-Verträge zu brechen – mit Massnahmen beim Lohnschutz. «Wir versuchen, ein Gleichgewicht zu finden zwischen den verschiedenen Interessen», sagte Parmelin. Das Ziel sei weiterhin, das Lohnschutzniveau zu sichern.
Zu den Rückschritten gegenüber heute gehört etwa, dass die Anmeldefrist für Firmen aus EU-Ländern bei Arbeiten in der Schweiz neu nur noch vier statt acht Tage betragen wird und dass die Schweiz im Bereich der Spesen keine Ausnahme erhalten hat.
Vor der Sommerpause will die Landesregierung eine abschliessende Beurteilung vornehmen. «Der Bundesrat ist überzeugt, dass das Verhandlungsergebnis eine solide und zielführende Grundlage darstellt», sagte Cassis. Der Prozess sei «breit abgestützt» gewesen. Er spüre eine «konstruktive Unterstützung». (awp/mc/ps)