Gerhard Schwarz, Direktor Avenir Suisse
Zürich – Die Schweiz muss die Personenfreizügigkeit mit der EU nicht aufgeben, um die Ziele der «Masseneinwanderungsinitiative» zu erreichen. Stattdessen könnte sie die Zuwanderung mit einem 10-jährigen Globalziel (im Sinn einer oberen Schranke) auf den Migrationssaldo langfristig und verbindlich beschränken. Alternativ könnte die Schweiz festlegen, dass die ständige Wohnbevölkerung bis 2025 nicht über eine bestimmte Schwelle wachsen soll. Sollte sich anlässlich einer Zwischenbilanz 2021 zeigen, dass der vorgesehene Pfad nicht eingehalten wird, treten vordefinierte Massnahmen (Kontingente) in Kraft. Dies setzt der Wirtschaft starke Anreize zur Selbstregulierung und nimmt die Politik in die Pflicht, die Zuwanderung nicht weiter künstlich anzuheizen. Mit diesem Vorgehen liesse sich vermutlich ein Bruch mit den bilateralen Verträgen vermeiden, die Zuwanderung gleichwohl drosseln und übermässige Bürokratie verhindern.
Die Schweizer Stimmbürger sind nach Ansicht von Avenir Suisse trotz des Abstimmungsergebnisses vom 9. Februar nicht grundsätzlich gegen die Zuwanderung. Die Schweiz hat im Gegenteil in den vergangenen Jahrzehnten gut mit einer massvollen Zuwanderung gelebt und verschiedene Einwanderungswellen erfolgreich assimiliert. Wiederholt hat sich der Souverän für die bilateralen Verträge mit der EU ausgesprochen. Zuwanderungsbedingte Probleme auf dem Arbeitsmarkt sind weitgehend ausgeblieben; es gab keinen Anstieg der Arbeitslosigkeit, keine sinkenden Löhne und mehr Chancen auch für Schweizer.
Was den Schweizern und Schweizerinnen Sorgen bereitet, ist nicht die Zuwanderung an sich, sondern das Wachstumstempo der letzten Jahre. Die Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU hat unzweifelhaft zur Beschleunigung des Bevölkerungswachstums beigetragen. Zwischen 2002 und 2013 wuchs die ständige Wohnbevölkerung (Inländer und Ausländer) im Durchschnitt um 70’000 Personen im Jahr, 2007 bis 2013 sogar um 90’000 Personen jährlich. In den 20 Jahren davor lag die Bevölkerungszunahme bei 40’000 – 50’000 Personen pro Jahr. Die Beschleunigung führte zu einer gewissen Wachstumsmüdigkeit, nicht zuletzt, weil Symptome wie steigende Wohnkosten und Wohnungsknappheit, Verkehrszunahme und –überlastung oder Siedlungsdruck zu monokausal der Zuwanderung und dem Wachstum statt dem falschen politischen Umgang mit diesen Phänomenen angelastet wurden. Aus Sicht von Avenir Suisse erklärt dies zu einem beträchtlichen Teil die Annahme der «Masseneinwanderungsinitiative».
Wachstumsgrenze statt Bürokratie
Avenir Suisse präsentiert einen Vorschlag, wie die Nettozuwanderung (Einwanderung minus Auswanderung) reduziert werden könnte, ohne die Personenfreizügigkeit oder die bilateralen Verträge mit der EU aufzugeben. Die Schweiz könnte sich zum Ziel setzen, die ständige Wohnbevölkerung bis Ende 2025 auf nicht mehr als beispielsweise 8,84 oder 9 Millionen Menschen wachsen zu lassen. Unter der Annahme eines mittleren Geburtenüberschusses von 17’000 Menschen entspräche dies einer Nettozuwanderung von rund 40’000 oder 55’000 Personen pro Jahr. Diese Werte liegen beide unter dem mittleren Niveau seit der Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 (2002-2013: 61’000 Nettozuwanderung pro Jahr) und vor allem deutlich unter der mittleren Zahl der Jahre 2007 bis 2013 von rund 75’000 Personen. Der Lösungsvorschlag von Avenir Suisse, ein Globalziel für 10 Jahre, hängt aber nicht von der konkreten Zahlenvorgabe ab. Und alternativ könnte man auch ein Zuwanderungsziel für 10 Jahre definieren. Für die Periode 2026 bis 2034 wird vor 2024 die Zielgrösse neu festgelegt. Die Personenfreizügigkeit wird vorerst nicht aufgegeben.
Aussicht auf Kontingente setzt richtige Anreize
Fünf Jahre nach Einführung dieses Regimes, also 2021, erfolgt eine Zwischenbilanz. Falls die Entwicklung über dem festgelegten Pfad liegt, treten 2021 sofort und automatisch vordefinierte Massnahmen in Kraft. Dies wären fixe Kontingente, die sicherstellen müssten, dass das Ziel nicht überschritten wird. Sie könnten zentral vergeben oder – was ökonomisch sinnvoller wäre – versteigert werden. Diese Aussicht sollte in Wirtschaft und Politik einen starken Anreiz zur Selbstbeschränkung setzen, denn fixe Kontingente sind unflexibel, ineffizient und bürokratisch. Um Trittbrettfahren (von Firmen, die sich wegen der Freiwilligkeit in der ersten Phase keine Zurückhaltung bei der Anstellung von Personen aus dem Ausland auferlegen) einzuschränken, sollte das drohende Kontingentsregime mit einer Rückwirkungsklausel versehen werden: Falls man sich 2021 nicht auf dem angepeilten Pfad befindet, werden die bis dahin erfolgten Neuanstellungen aus dem Ausland rückwirkend bis 2016 dem zwingenden Regime unterstellt.
Der Vorschlag von Avenir Suisse strebt also ohne Bruch mit der Personenfreizügigkeit eine Drosselung des Migrationssaldos an, wobei die jährliche Zuwanderung schwanken kann. Entscheidend ist allein, dass 2021 bzw. 2025 die Richtgrössen eingehalten werden.
Die Vorteile des Globalziels
Das System des Globalziels weist fünf gewichtige Vorteile auf:
- Die Schweiz gewinnt Zeit, damit sich Politik und Wirtschaft an die neuen Verhältnisse anpassen können.
- Durch die Drohung einschneidender Massnahmen entsteht in der Wirtschaft ein starker Anreiz zur Selbstregulierung, während die Politik in der Pflicht steht, selbst keinen künstlichen Zuwanderungssog zu erzeugen.
- Bürokratieauswüchse und Verteilkämpfe zwischen Branchen und Regionen werden vermieden.
- Der Konjunktur und exogenen Einflüssen kann flexibel begegnet werden, bei einer konjunkturellen Verlangsamung geht der Zuwanderungsdruck ohne Kontingente zurück.
- Die blosse Drohung mit einschneidenden Massnahmen ist aber noch kein Bruch der Personenfreizügigkeit. Die bilateralen Verträge müssten also wohl nicht aufgegeben werden.
Massnahmenbündel in Wirtschaft und Politik
Die Schweiz kann nur sogenannte Pull-Faktoren der Migration beeinflussen, Push-Faktoren sind für sie gegeben. Deshalb braucht das System des Globalziels ein Bündel von Massnahmen, das helfen soll, die Zuwanderung ohne Kontingente zu reduzieren. Die Massnahmen betreffen sowohl Bund und Kantone wie auch Firmen und Verbände der Wirtschaft.
Massnahmen der Wirtschaft
- Verstärkte Anstrengungen zur Mobilisierung von einheimischen Arbeitsmarktreserven (Frauen, Ältere): bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, flexible Altersteilzeit, Mentoring-Modelle.
- Zur Finanzierung der Mobilisierungsmassnahmen zahlen die Unternehmen auf Branchenebene eine Abgabe für jede Personalakquisition im Ausland (während der ersten drei Jahre der Beschäftigung oder als Vorauszahlung bei der Anstellung). Diese verteuert die Anstellung neuer Ausländer gegenüber Inländern.
Massnahmen der Politik
- Verzicht auf Standortförderung, ausser in sehr strukturschwachen Gebieten
- Verzicht auf gezielte Steuervergünstigungen für zuziehende Firmen – bei möglichst guten Rahmenbedingungen für alle Firmen
- Zurückhaltung bei Neueinzonungen von Industrie- und Gewerbeland
- Beseitigung der Benachteiligung von Zweiteinkommen im Steuerrecht, in der Sozial- und Familienpolitik (Krippengebühren)
- Verstärkte Ausrichtung der Bildungspolitik auf den Arbeitsmarkt (z.B. MINT-Berufe)
- Reduktion der Kontingente für Drittstaaten
- Einschränkung des Familiennachzugs aus Drittstaaten
- Grenzgänger sind nicht das Problem, sondern Teil der Lösung
Von zentraler Bedeutung ist, dass man Grenzgänger nicht als Zuwanderer betrachtet. Sie wandern nicht zu, sondern leben weiterhin in ihrer Heimat, sie fragen also auch keinen Wohnraum nach, sie bringen keine Familien mit und sie beanspruchen mit Ausnahme der Verkehrsinfrastruktur praktisch keine Infrastruktur. Avenir Suisse ist daher überzeugt, dass Grenzgänger einen wichtigen Teil der Lösung bilden könnten.
Zielgrössen
Die konkreten Ziele für den Wanderungssaldo resp. die Bevölkerung 2016 bis Ende 2025 sind von der Politik festzulegen. Als Orientierungsgrössen können folgende Varianten dienen:
- Die «Variante tief» senkt die Nettozuwanderung auf das Niveau der Anfangsphase der Personenfreizügigkeit 2002 – 2006: durchschnittlich 40’000 Personen Nettozuwanderung pro Jahr, voraussichtlicher Bevölkerungsstand Ende 2025: 8,84 Mio. Personen.
- Die «Variante hoch» basiert auf einer Nettozuwanderung leicht unter dem Niveau der Jahre 2007-2013 (Vollausbau der Personenfreizügigkeit): durchschnittlich 70’000 Personen pro Jahr, voraussichtlicher Bevölkerungsstand Ende 2025: 9,14 Mio. Personen.
- Die «Variante mittel» entspricht mit einer Nettozuwanderung von durchschnittlich 55’000 Personen pro Jahr in etwa der Entwicklung der ganzen Periode 2002 bis 2013, voraussichtlicher Bevölkerungsstand Ende 2025: 8,99 Millionen Personen.
(Avenir Suisse/mc/ps)