Berset: «Der menschliche Kontakt ist das, was bleibt»
Kiew / Bern – Bundespräsident Alain Berset ist am Samstag mit vielen starken Eindrücken von seinem überraschenden Staatsbesuch in Kiew zurückgekehrt. Der Innenminister, der sich auf internationalem Parkett wohlfühlt, konnte das tun, was ihm besonders liegt: den direkten, manchmal improvisierten Kontakt mit Menschen pflegen.
Herr Bundespräsident, welche Eindrücke bleiben Ihnen nach Ihrem Besuch in Kiew?
Alain Berset: «Es war extrem dicht. Ich war etwa zwölf Stunden dort und offen gestanden, es kam mir vor wie mehrere Tage. Ich hatte viele verschiedene Emotionen, wie es oft bei Auslandsreisen der Fall ist…»
Sie sprechen vom Ausland. Empfinden Sie kein Bedauern darüber, dass Sie Ihre gesamte Karriere als Minister an der Spitze des Innenministeriums absolviert haben und nicht im Aussenministerium waren?
«Ich fühle mich absolut privilegiert, zwölf Jahre im Innendepartement verbracht zu haben. Es ist das Departement mit den konkretesten Auswirkungen auf die Menschen, auf den sozialen Zusammenhalt. Ich habe festgestellt, dass man besser immer im gleichen Departement bleibt, wenn man die Dinge nachhaltig beeinflussen will.
Ich bin sehr zufrieden damit, wie es ist. Meine beiden Jahre als Bundespräsident, 2018 und 2023, haben mir viele Aktivitäten im Ausland ermöglicht, ebenso wie die internationalen Kontakte im Gesundheits- und Kulturbereich, welche zu meiner Rolle als Innenminister gehören.»
Kontakte mit Menschen geschätzt
Was gefällt Ihnen am meisten an diesem Beruf als Bundesrat, wenn Sie Bilanz ziehen (Berset wird Ende des Jahres zurücktreten)?
«Wenn ich etwas nennen muss, dann sind es die persönlichen Begegnungen, die menschlichen Kontakte. Am Ende ist das, was wirklich bleibt. Kürzlich habe ich zwei Tage mit Emmanuel Macron und seiner Frau bei seinem Empfang in Bern verbracht. Auch da hat sich der menschliche Kontakt als sehr wichtig erwiesen.»
Wie würden Sie Ihre letzten beiden grossen Gesprächspartner, Emmanuel Macron und Wolodymyr Selenskyj, beschreiben?
«Sie haben eines gemeinsam: In völlig unterschiedlichen Situationen sind sie beide markante Persönlichkeiten. Es sind Führungspersönlichkeiten, die sowohl viel Energie haben als auch viel davon für die Sache aufwenden, die ihnen am Herzen liegt.»
«Ein Krieg, der auf Dauer angelegt ist»
Was hat Sie bei Ihrem Besuch in Kiew überrascht?
«Eine gewisse Resilienz der Bevölkerung. Ich war überrascht von der Infrastruktur in Kiew, die die eines gut funktionierenden Landes ist. Auf der anderen Seite leidet die Bevölkerung unter dem Krieg. Ich war beeindruckt von der sehr professionellen und ruhigen Art und Weise, wie die Evakuierung des Presseraums nach dem plötzlich ertönenden Raketenalarm durchgeführt wurde. Man nahm sich die Zeit, die Fragen zu Ende zu beantworten, bevor evakuiert wurde. Dann ging alles sehr rasch, bis hin zum Unterschlupf an einem sicheren Ort. Die Situation wurde sehr flexibel gehandhabt»
Wie sehen Sie den weiteren Verlauf dieses Krieges?
«Diejenigen, die zu Beginn des Konflikts ein schnelles Ende für die eine oder andere Seite vorhersagten, haben sich geirrt. Wir sehen, dass er leider wohl auf Dauer angelegt ist. Wir haben es mit einem Krieg zu tun, in dem sich die Frontlinien kaum noch zu verschieben scheinen. Eine der grössten der Herausforderungen ist, langfristig die Unterstützung und Solidarität mit der Ukraine aufrecht zu erhalten. Die Schweiz ist hier sehr konstant, wir halten Wort.»
Welche Kontakte haben Sie zu Russland?
«Die Schweiz hat Kontakte auf diplomatischer Ebene und im Rahmen des Uno-Sicherheitsrats. Der Sitz der Schweiz im Sicherheitsrat in New York befindet sich direkt neben dem Sitz Russlands. Wir sprechen miteinander, aber das bedeutet nicht, dass wir einer Meinung sind. Mit dem Angriff auf die Ukraine hat Russland grundlegende Regeln des Völkerrechts verletzt.»
Und mit Wladimir Putin persönlich hatten Sie in diesem Jahr Kontakt?
Berset: «Nein.»
Was ist Ihnen aus diesem Jahr der Präsidentschaft besonders in Erinnerung geblieben?
«Die Kontakte vor Ort. Ich war in Kolumbien, Botswana, der Demokratischen Republik Kongo und Mosambik, wo die Schweiz durch sehr intensive Vermittlung einen grossen Einfluss auf den 2016 begonnenen Friedensprozess hatte. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass um Ergebnisse zu erzielen, persönliche Kontakte sehr wichtig sind. Arbeitsgruppen, formelle Treffen sind wichtig, aber auch informelle Kontakte spielen eine entscheidende Rolle. Manchmal passieren die entscheidenden Gespräche bei einem spontanen Austausch, zum Beispiel bei einem Aperitif auf einer Terrasse, wie es mir im Mai in Reykjavikmit dem ukrainischen Premierminister Denys Schmyhal passiert ist. Ich habe dieses Jahr häufig so gehandelt, und es funktioniert sehr gut.»
Neue Ski gekauft
Wie sieht Ihre persönliche Zukunft aus, wenn Sie Ende 2023 aus dem Bundesrat ausscheiden?
«Ich bin 51 Jahre alt und bin bald zwölf Jahre Teil des Bundesrates davon zwei Jahre als Bundespräsident. Was wäre der bessere Zeitpunkt gewesen, um zu gehen? Ich werde mich bis Ende des Jahres voll engagieren, mit der COP28 (Klimakonferenz) in Dubai nächste Woche. Danach freue ich mich wirklich darauf, mich ein wenig ausruhen zu können! Und dafür habe ich mir ein neues Paar Ski gekauft.
In zwölf Jahren habe ich den Bundesrat bei 29 Volksabstimmungen vertreten, was einzigartig ist. Manchmal sagt man, dass jedes Jahr in der Regierung zwei Jahren im normalen Leben entspricht. Und die Covid-Jahre waren noch viel intensiver. Das übersteht man nicht unbeschadet. Jetzt brauche ich Zeit, um mich über meinen leeren Terminkalender zu freuen und mich ein wenig auszuruhen. Dann sehen wir weiter. Vielleicht fange ich dann am 3. Januar an, mir Gedanken zu machen, wie es weitergeht…» (awp/mc/ps)