Ukraine-Krieg führt in der Bevölkerung zu Umdenken bei Sicherheitsfragen
Bern – Wille zu einer stärkeren Armee und einer Annäherung an die Nato sowie ein kritischerer Blick auf die Neutralität: Der Krieg in der Ukraine führt bei Schweizer Stimmberechtigten zu einem Umdenken. Das zeigt eine neue Studie im Auftrag des Bundes.
«Der Ukraine-Krieg hat für die Bevölkerung eine speziellere Bedeutung als andere Grosskatastrophen in der Vergangenheit», sagte Jacques Robert am Donnerstag vor den Medien in Bern. Er ist einer der Herausgeber der Nachbefragung der Studienreihe «Sicherheit», die von der Gruppe Verteidigung des Eidgenössischen Departements für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS) publiziert wurde.
Gemäss der Untersuchung stimmt erstmals eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer einer Annäherung der Schweiz an die Nato zu. Mit 52 Prozent sei die Zustimmung zu einer Annäherung an das europäisch-amerikanische Verteidigungsbündnis auf einem Höchststand, sagte Studienautor Patric Rohr. Im Januar 2021 hatten noch 45 Prozent der Befragten einer Nato-Annäherung zugestimmt.
Nato-Beitritt weiterhin nicht populär
Wie diese Annäherung stattfinden soll, wurde nicht erfragt. «Es geht eher um das Bauchgefühl», sagte Tibor Szvircsev Tresch, Hauptherausgeber der Studienreihe. Irgendwie merke die Bevölkerung, dass eine Annäherung an ein Verteidigungsbündnis eine Alternative zur Neutralität sei.
Gleichzeitig steigt laut Rohr aber auch das Bedürfnis nach einer Bündnisfreiheit. Das führe zu einer stärkeren Polarisierung in der Bevölkerung.
Gemäss der im Juni 2022 durchgeführten repräsentativen Umfrage spricht sich nach wie vor eine klare Mehrheit der Stimmberechtigten in der Schweiz gegen einen Nato-Beitritt aus. Die Zustimmung ist mit 27 Prozent jedoch deutlich höher als in früheren Jahren und so hoch wie seit dem Jahr 2001 nicht mehr.
«Vermehrt Zweifel am Nutzen der Neutralität»
Insgesamt sei die Haltung auf dem Vormarsch, dass eine Mitgliedschaft in einem europäischen Verteidigungsbündnis der Schweiz mehr Sicherheit bringen würde als die Beibehaltung der Neutralität, bilanzieren die Studienautoren. «Es bestehen vermehrt Zweifel am Nutzen der Neutralität – insbesondere bei links eingestellten Menschen», sagte Studienautor Jacques Robert.
Gemäss den Studienergebnissen sind nur noch 58 Prozent der Schweizer und Schweizerinnen überzeugt, dass die Neutralität die Schweiz vor internationalen Konflikten schützt. Im Januar 2022 waren es noch 69 Prozent. Insgesamt stehen aber noch 89 Prozent klar hinter dem Neutralitätsprinzip. Im Vergleich zum Januar 2022 sind das 8 Prozentpunkte weniger – ein Rückgang wie seit zwanzig Jahren nicht mehr.
Die Studienergebnisse zeigen weiter, dass 77 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer es als richtig empfinden, dass die Schweiz die Sanktionen gegenüber Russland mitträgt. 71 Prozent sind der Meinung, dass diese Sanktionen mit der Neutralität vereinbar sind.
Neuer Trend bei Armeeausgaben
An Rückhalt gewonnen hat seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine die Armee. Im Juni 2022 erachteten 80 Prozent (+5 Prozentpunkte) der Schweizerinnen und Schweizer die Armee als notwendig, was einem signifikanten Anstieg entspricht. «Die Befragten wollen, dass die Verteidigungsfähigkeit der Armee gestärkt wird», sagte Szvircsev Tresch.
Grosse Veränderungen zeigen sich gemäss der Studie auch bei der Einschätzung zu den Verteidigungsausgaben. Schweizerinnen und Schweizer, welche die Armeeausgaben als «zu tief» bewerten, machen nun 19 Prozent aus. Seit Messbeginn in den 1980er-Jahren ist dieser Anteil laut den Studienautoren noch nie so gross gewesen. Umgekehrt vertreten so wenige wie nie die Meinung, dass die Schweiz «zu viel» für die Verteidigung ausgibt.
Ob die Mehrheit der Bevölkerung die vom Parlament beschlossene Aufstockung des Armeebudgets von rund zwei Milliarden Franken bis ins Jahr 2030 befürwortet, lasse sich aber nicht sagen, sagte Szvircsev Tresch. In der Studie sei nicht konkret danach gefragt worden.
Grosse Zukunftsängste
Insgesamt blicken Schweizerinnen und Schweizer pessimistischer in die Zukunft als noch im Januar 2022. «Die Zukunftsängste sind so gross wie seit 2016 nicht mehr», sagte Studienautor Stefano De Rosa. Damals stand die Bevölkerung unter dem Eindruck verschiedener Terroranschläge im Ausland sowie der Flüchtlingskrise.
Eine Mehrheit von 58 Prozent geht heute gemäss der Befragung davon aus, dass es in Zukunft zu mehr kriegerischen Konflikten in Europa kommen wird. Die weltpolitische Lage wird laut De Rosa als deutlich instabiler angenommen.
Die telefonische Befragung von rund tausend Personen wurde durch das Meinungsforschungsinstitut Link durchgeführt. Der Stichprobenfehler liegt im ungünstigsten Fall bei plus/minus 3,2 Prozentpunkten. Herausgegeben werden die Ergebnisse von der Militärakademie (Milak) und dem Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. (awp/mc/pg)