Bern – Der Bundesrat will neu regeln, für welche Naturkatastrophen Atomkraftwerke gerüstet sein müssen. Er hat am Mittwoch eine Reihe von Verordnungsänderungen in die Vernehmlassung geschickt.
AKW-Betreiber müssen ihre Anlagen so schützen, dass bei einem Störfall nicht mit einer grösseren Freisetzung radioaktiver Stoffe zu rechnen ist. Umstritten ist, welchen Katastrophen die AKW auf Basis des heutigen Rechts standhalten müssen.
Anwohner des Atomkraftwerks Beznau und Umweltorganisationen stellen sich auf den Standpunkt, dass die heutigen Regeln zu lasch ausgelegt werden. Aus ihrer Sicht müssten AKW so nachgerüstet werden, dass sie auch seltensten, schwersten Katastrophen Stand halten. Die Organisationen richteten ein entsprechendes Gesuch an die Atomaufsichtsbehörde ENSI.
Drohendes Aus für alle AKW
Als Konsequenz dieser Rechtsauffassung müssten nicht nur die Atomkraftwerke Beznau 1 und 2, sondern mutmasslich alle Schweizer AKW vorläufig ausser Betrieb genommen werden. Das ENSI kam zum Schluss, dass die Auslegung der Gesuchsteller weder der bisherigen Praxis der Behörden noch der ursprünglichen Regelungsabsicht des Bundesrats entspreche.
Allerdings habe das Verfahren aufgezeigt, dass die Verordnungen unklar formuliert seien, schreibt der Bundesrat im Bericht zur Vernehmlassung. Da die Verfügung des ENSI beim Bundesverwaltungsgericht angefochten worden sei, müsse in dieser Frage umgehend wieder Rechtssicherheit hergestellt werden.
Mit den Verordnungsänderungen werde die bisherige Praxis klar und eindeutig abgebildet, heisst es im Bericht. Die Regelung sei konform mit den internationalen Vorgaben.
Einmal in 1000 oder 10’000 Jahren
Konkret soll zwischen naturbedingten und übrigen, technisch bedingten Störfällen unterschieden werden. Dabei soll präzisiert werden, dass bei Naturereignissen solche mit einer Häufigkeit von einmal pro 1000 Jahren und einmal pro 10’000 Jahren betrachtet werden.
Bei solchen Ereignissen soll der Dosiswert von 1 beziehungsweise 100 Millisiervert nicht überschritten werden dürfen. Dieser Wert gibt die biologische Wirkung der radioaktiven Strahlung auf den Menschen an. Bei technischen Störfällen sollen weiterhin die Störfallkategorien der Strahlenschutzverordnung gelten.
Sofortige Abschaltung
Neu will der Bundesrat zudem festlegen, dass ein AKW unabhängig von der Störfallkategorie unverzüglich vorläufig ausser Betrieb genommen und nachgerüstet werden muss, wenn bei Störfällen, welche die Betreiber beherrschen müssen, eine Dosis von 100 Millisiervert nicht eingehalten werden kann.
Bei den tieferen Störfallkategorien muss das Werk nachgerüstet, jedoch nicht unverzüglich ausser Betrieb genommen werden, wenn eine Dosis von 0,3 beziehungsweise 1 Millisiervert nicht eingehalten werden kann. Diese Dosen liegen unterhalb der jährlichen natürlichen Strahlung in der Schweiz. Auf dem Gelände des havarierten AKW Fukushima sind zeitweise 400 bis 1000 Millisievert pro Stunde gemessen worden
Lager für schwach radioaktiven Müll
Klarer regeln will der Bundesrat ferner die Lagerung von schwach radioaktiven Abfällen. Seit Jahresbeginn gelten für radioaktive Abfälle tiefere Freigrenzen. Die Übernahme der international harmonisierten Grenzen führt dazu, dass bei der Stilllegung der Schweizer Atomkraftwerke doppelt so viel radioaktiver Abfall anfällt.
Bei einem grossen Teil handelt es sich um sehr schwach radioaktives Material, das bislang als inaktiv galt und zum Beispiel im Bau weiterverwendet werden konnte. Neu muss solches Material zuerst gelagert werden. Nach spätestens 30 Jahren sind diese Abfälle soweit abgeklungen, dass sie als inaktiv gelten.
Bewilligung des Kantons
Die Abklinglagerung ist im Gesetz bereits vorgesehen. Künftig sollen solche Lager nun aber auch ausserhalb einer Kernanlage erstellt und betrieben werden können. Der sehr schwach radioaktive Abfall stelle für Mensch und Umwelt bei entsprechender Handhabung ein geringes Gefährdungspotenzial dar, schreibt der Bundesrat.
Abklinglager sollen nur dann ausserhalb von Kernanlagen gebaut werden dürfen, wenn der Standortkanton dafür eine kantonale Baubewilligung erteilt hat und überdies eine Bewilligung nach Strahlenschutzgesetz für diese Lagerung vorliegt. Die Atomaufsichtsbehörde ENSI würde die Bewilligung erteilen und die Lagerung beaufsichtigen.
Wegen des geringen Gefährdungspotenzials will der Bundesrat ausserdem den Umfang der Haftung der Betreiber auf 70 Millionen Euro herabsetzen. Die Abklinglagerung von radioaktiven Abfällen, die nicht aus Kernanlagen stammen, ist von der Revision nicht betroffen. (awp/mc/ps)