Der Tessiner Ignazio Cassis ist Bundesrat
Bern – Der Tessiner Ignazio Cassis ist neuer Bundesrat. Die Bundesversammlung hat den 56-jährigen Mediziner am Mittwoch im zweiten Wahlgang in die Landesregierung gewählt. Ob Cassis Anfang November das Aussendepartement von seinem Vorgänger Didier Burkhalter übernimmt, ist offen.
Er freue sich, jedes Departement zu übernehmen, sagte Cassis bei seinem ersten Auftritt vor den Bundeshausmedien. Der Bundesrat entscheidet am Freitag. Als neu gewähltes Mitglied muss Cassis bei der Departementsverteilung hinten anstehen.
Der Favorit setzt sich durch
Am Wahltag stand er jedoch im Zentrum. Seit FDP-Bundesrat Burkhalter Mitte Juni den Rücktritt angekündigt hatte, galt Cassis als Favorit. Das Tessin war seit 18 Jahren nicht mehr im Bundesrat vertreten. Die Tessiner Kandidaten bei früheren Ersatzwahlen waren allesamt gescheitert. Cassis hatte als langjähriger Nationalrat, FDP-Fraktionschef und Präsident der einflussreichen Gesundheitskommission gute Karten.
Diese spielte er in den letzten drei Monaten sicher aus. Cassis absolvierte die Wahlkampagne routiniert und ohne grössere Fehler. Opportunistisch sei er, hiess es, als der Doppelbürger seinen italienischen Pass abgab. Etwas blass, das falsche Sofa. Nichts davon blieb an Cassis hängen.
Ungefährdeter Sieg
So dauerte es denn auch nur etwas mehr als eine Stunde, bis sich die Vereinigte Bundesversammlung am Mittwochmorgen auf einen neuen Bundesrat geeinigt hatte: Cassis wurde im zweiten Wahlgang mit 125 Stimmen zum 117. Bundesrat der Eidgenossenschaft gewählt. Sein Sieg war niemals gefährdet gewesen.
Als schärfster Konkurrent stellte sich der Genfer Staatsrat Pierre Maudet heraus. Dieser hatte in den letzten Wochen intensiv für sich geworben. Vor allem aber bot er sich der Linken und einem Teil der CVP als Alternative zu Cassis an, der schon früh von der SVP vereinnahmt worden war. Maudet machte im ersten Wahlgang 62, im zweiten 90 Stimmen. Dem absoluten Mehr von 123 Stimmen kam er nicht einmal nahe.
Chancenlos war die Frau auf dem Dreierticket, die Waadtländer Nationalrätin Isabelle Moret. Sie war von den Grünen und wohl auch von vielen Frauen unterstützt worden. Im ersten Wahlgang kam sie auf 55 Stimmen, im zweiten Wahlgang waren es noch 28.
Tessin im Freudentaumel
Cassis legte unmittelbar nach seiner Wahl den Amtseid ab. Bevor er von den übrigen Mitgliedern des Bundesrats im Salon du Président empfangen wurde, erklärte er sich zufrieden damit, dass die italienischsprachige Schweiz nun wieder im Bundesrat vertreten sei. Er präsentierte sich als Schmied, der das Land noch stärker zusammenschmieden werde.
Dieses Thema griff Cassis später bei seinem Auftritt vor den Bundeshausmedien wieder auf. Er kritisierte das mangelnde Verständnis der Deutschschweiz für die Italianità als Teil des Landes. Als Tessiner werde er Kenntnisse über die Probleme von Grenzgebieten einbringen und das Knowhow, mit Italienerinnen und Italienern zu verhandeln.
Im Tessin weckt Bundesrat Cassis jedenfalls grosse Erwartungen: Die Tessiner Regierung drückte im Namen der ganzen Bevölkerung ihre «tiefe Befriedigung» aus. Es sei ein wichtiger Tag für den Kanton, sagte Regierungspräsident Manuele Bertoli in Bern. Über hundert Mitglieder der Tessiner FDP zogen mit blauen und roten Ballonen zum Bundeshaus und skandierten «Ignazio, Ignazio!» In Montagnola, dem Wohnort des neuen Bundesrats, brach nach der Wahl ein Freudentaumel aus.
Keine Versprechungen
Auf Nachfrage von Journalisten musste Cassis bereits über die Landesgrenze hinausblicken. Der bilaterale Weg müsse konsolidiert und ausgebaut werden, erklärte er. Dazu seien gewisse institutionelle Fragen zu lösen, «ob in einem Rahmenabkommen oder in einem anders benannten Abkommen». Das Wort «Rahmenabkommen» hält Cassis für vergiftet. Es brauche eine neue Auslegeordnung, sagte er.
Cassis hatte in dem Zusammenhang auch schon von einem «Reset-Knopf» gesprochen, den es zu drücken gelte. Dies zur Freude der SVP: Laut Parteipräsident Albert Rösti war die Aussage entscheidend für die Unterstützung der SVP. Der SVP fühle er sich trotzdem nicht verpflichtet, sagte Cassis: «Ich habe keine Versprechungen gemacht.» Er werde sich nicht ändern und auch im Bundesrat seine freisinnigen Positionen vertreten.
Nur Nuancen
Der Politologe Louis Perron glaubt nicht, dass der Gesamtbundesrat dadurch nach rechts rutschen wird. Der Tessiner werde andere Nuancen setzen, etwa bei der Migration. Einen grossen Kurswechsel werde es nicht geben. «Wir haben einen Freisinnigen durch einen Freisinnigen ersetzt», sagte Perron.
Zu reden gab die anhaltende Untervertretung der Frauen im Bundesrat. SP-Fraktionspräsident Roger Nordmann kritisierte, dass die FDP den Frauen keine echte Chance eingeräumt habe. Wer Frauen in den Bundesrat bringen wolle, müsse zwei Frauen aufs Ticket setzen.
CVP-Präsident Gerhard Pfister stellte in Aussicht, dass seine Partei mindestens eine Frau aufstellen wird. Die CVP steht unter spezieller Beobachtung: Der nächste Rücktritt dürfte jener von Bundespräsidentin Doris Leuthard sein. Wird sie durch einen Mann ersetzt, ist Simonetta Sommaruga die einzige Frau im Bundesrat. (awp/mc/pg)