Die Kantone konnten sich während der ausserordentlichen Lage vom 16. März bis 19. Juni drei Monate auf die Übernahme der Verantwortung in der Bekämpfung von lokalen Ausbrüchen intensiv vorbereiten. Genügend Zeit, sollte man denken, um zusammen mit dem BAG (Bundesamt für Gesundheit) eine gemeinsame Datenbasis und ein daraus abgeleitetes Vorgehen zu definieren. Falsch gedacht, wie die aktuelle Lage zeigt.
Kommentar von Helmuth Fuchs
Die Lockerungen des Bundes haben erwartungsgemäss zu leicht ansteigenden Zahlen positiv Getesteter (497 in den letzten 7 Tagen, 71 Personen pro Tag im Schnitt) und damit einer ansteigenden medialen Erregungskurve («zweite Welle») geführt. Eher überraschend ist jedoch, wie schlecht die Kantone auf ihre Aufgaben vorbereitet sind. Die vom Bundesrat schon lange angekündigte Übergabe der Verantwortung zur Nachverfolgung der Ansteckungsketten (Contact Tracing) zwecks Isolation der Virenträger und Unterbrechung der Weiterverbreitung, klappt offensichtlich nicht wie gewünscht. Die Kantone sind scheinbar kaum in der Lage, das Contact Tracing innerhalb der eigenen Kantonsgrenzen, geschweige denn über die Kantone hinweg zielführend zu gestalten, wie die Recherchen des Online-Magazins Republik aufzeigen («Wer an der Planung scheitert, plant das Scheitern»).
Konnte man bei den teilweise unnötigen und willkürlichen wirtschaftlichen Eingriffen dem Bundesrat noch Detailversessenheit und Mikromanagement vorwerfen, trifft hier die Verantwortung hauptsächlich die Kantone. Der Bundesrat hat früh genug informiert und hat mit der SwissCovid auch eine Tracing App zu Verfügung gestellt, um in der Schweiz auf freiwilliger Basis anonym bei positiven Fällen möglicherweise Infizierte zu informieren. Es wäre ein Leichtes für die Kantone, bei Besuch der mittlerweile bekannten Hotspots (Clubs, Bars, grössere Veranstaltungen) die Aktivierung der App zwingend vorzuschreiben.
Ein Virus hält sich nicht an föderale Strukturen und deren Unzulänglichkeiten
Stattdessen zelebrieren die Kantone ihre föderale Unabhängigkeit, entwickeln eigene, mit anderen Kantonen und dem Bund nicht kompatible Lösungen auf nicht abgesprochener Datenbasis. Das verhindert dann erfolgreich eine schweizweite Sicht und ein über die Kantonsgrenzen hinaus einheitliches Vorgehen. Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass bei einer Epidemie für das strategische Vorgehen eine föderale Struktur ungeeignet ist, haben die Kantone diesen erfolgreich erbracht. Auch für die Arbeit vor Ort, wo eigentlich die Fähigkeiten der kantonalen Behörden mit ihrer Kenntnis der lokalen Gegebenheiten zum Tragen kommen könnten, zeigt sich in den Kantonen wie Aargau oder Zürich ein Bild der schnellen Überforderung und weitgehenden Intransparenz. Keine gemeinsame Datenbasis, keine gemeinsame Software, kein schneller gemeinsamer Datenaustausch, zu wenig geschultes Personal, keine eingespielten Abläufe. So dürfte die Bekämpfung lokaler Infektionsherde schwierig werden.
Öffentlicher Verkehr versus Volksgesundheit
Auch auf Bundesebene könnte zur Erfassung neuer Infektionsherde wesentlich mehr getan werden. Vor allem die seit Beginn nicht erklärbare Ausnahmebehandlung des Öffentlichen Verkehrs, speziell der SBB, hat viel mit Politik, wenig mit Wissenschaft zu tun. Um den ÖV möglichst nicht zu behindern und die Menschenströme an den Bahnhöfe nicht vermindern zu müssen, verstiegen sich das BAG und der Bundesrat zu irritierenden Aussagen wie derjenigen, dass eine unter 15-minütigen Unterschreitung des Mindestabstandes von 2 Metern kein Problem sei. Als würde das Virus geduldig die Viertelstunde abwarten, bevor es einen Menschen infiziert. Dann hielt man lange daran fest, dass in den ÖV Masken keine Notwendigkeit seien. Man bekommt den Eindruck, dass bei den ÖV und im Flugverkehr die Volksgesundheit weniger wichtig ist als das Bedürfnis, schnellstens wieder möglichst viele Personen zu transportieren. Gerade beim Bundesbetrieb SBB, dem aktuell mit 800 Millionen Bundesgeldern zusätzlich unter die Arme gegriffen wird und der mit 1.5 Milliarden unterstützen Swiss wäre es ein Einfaches, das Einschalten der Tracing App zu verordnen.
Zu billige Mobilität an sich sollte kein Ziel sein
Ganz generell ist die Lockerung der Massnahmen mit wenig Visionen für eine Zeit nach Corona verbunden. Viel wichtiger, als Bekanntes zu hinterfragen, um eventuell Neues zu denken und auszuprobieren, scheint es zu sein, möglichst schnell wieder zum Alten zurück zu kehren. Obwohl eigentlich allen klar sein muss, dass Flüge für 100 oder weniger Franken in europäische Städte oder Inlandflüge zum selben Preis kaum ein nachhaltiges Geschäftsmodell sein können, subventioniert man weiterhin genau diese Art des Reisens. Dasselbe beim ÖV: Statt sich Gedanken darüber zu machen, ob man das an sich nicht rentable Modell durch möglichst viel Wachstum und zusätzlichen Subventionen noch weiter in die falsche Richtung entwickeln will, werden möglichst viele Menschen motiviert, sich schnellstens wieder in überfüllte Züge zu drängen. Dabei wird weiterhin ausgeblendet, dass zu billige Mobilität nicht nur ein Problem des Verkehrs auf der Strasse ist, sondern genauso auf der Schiene und in der Luft. Da hilft auch die viel beschworene Elektrifizierung des Systems nichts, sondern verschiebt das Problem einfach zur Quelle der Energie.
Zeit für grössere Schritte nach vorn statt einem Schlurfen zurück
Home Office und Videokonferenzen haben gezeigt, dass Vieles auch ohne physische Präsenz möglich ist. Die Digitalisierung hat in einzelnen Bereichen Fortschritte erzielt, für die sonst Jahre benötigt werden. Ein solidarisches Wir-Gefühl kam über die physische Distanzierung hinaus zustande wie sonst nur bei 1. August-Anlässen oder Schwingfesten. Der Bundesrat hat bewiesen, dass er in der Lage ist, für dringende Probleme Mittel in Milliardenhöhe in kürzester Zeit frei zu machen. Wenn aus der Coronakrise schon etwas Positives abfällt, sollte dies nicht so leichtsinnig von den politischen Behörden ignoriert und übergangslos zum Zustand vor der Krise gedrängt werden. Wenn wir Entscheidungen fällen, welche über Generationen hinaus Wirkung haben, sollten diese auch Probleme der Zukunft lösen und nicht einfach zukunftslose Altlasten weiter am Leben erhalten. Dafür sollte auch eine zukunftstaugliche Finanzierung erarbeitet werden.
Wenn schon klar ist, dass die Arbeit, wie wir sie kennen, abnehmen wird und simples Wachstum begrenzt ist und daher nicht die Lösung unserer Probleme sein kann, ist es an der Zeit, auch die Finanzierung unseres gemeinsamen Staates vom Wachstum und der übermässigen Besteuerung der Arbeit zu entkoppeln. Als Ersatz bieten sich die Besteuerung von Energie und Vermögen an, eine Neudefinition von Arbeit, sowie die Anpassung der Vorsorge an die neuen Lebensrealitäten. Ein nostalgischer Blick zurück bietet dazu nicht die richtige Perspektive.