Brüssel – Die Beziehung Schweiz-EU gleicht einer Baustelle. Trotzdem ist sie im aktuellen Wahlkampf kein Thema, was sich nach den eidgenössischen Wahlen am 22. Oktober ändern dürfte.
Ungewiss ist, ob der Bundesrat die Ersatzwahl von Alain Berset abwartet, bevor er ein Verhandlungsmandat präsentieren wird. Parlamentarierinnen und Parlamentarier zeigten sich im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA uneins darüber.
Gewiss ist hingegen, dass nach der Präsentation des Mandates dieses noch in die Aussenpolitischen Kommissionen des Parlamentes und zu den Kantonen in die Konsultation muss, bevor mit den Verhandlungen begonnen werden kann.
Während weiter Zeit vergeht, bröckelt die Beziehung Schweiz-EU weiter auseinander. Immer mehr Schweizer Branchen sehen sich mit grossen Unsicherheiten konfrontiert und sind auf Gedeih und Verderb von der Kulanz der EU abhängig.
Ungewissheit für Swissgrid und SBB
So auch die Schweizer Netzbetreiberin Swissgrid: Sie wurde bereits von der Teilnahme an der EU-Marktkopplung ausgeschlossen. Dadurch entstehen laut Swissgrid «ungeplante Lastflüsse durch die Schweiz, die zunehmend die Netzstabilität gefährden».
Nun droht ihr der Ausschluss aus einer der Regelenergieplattformen. Die Teilnahme daran sei «stark gefährdet», heisst es auf der Webseite der Netzbetreiberin. Regelenergie ist eine Reserveenergie, mit der Schwankungen im Stromnetz ausgeglichen werden.
Hinzu kommt, dass die EU-Staaten ab 2025 Minimum 70 Prozent ihrer Kapazitäten für die EU reservieren müssen. Ohne Abkommen dürfte die Schweiz nicht miteinbezogen werden. Gemäss Swissgrid wird das zu mehr ungeplanten Stromflüssen führen und damit die Netzstabilität beeinträchtigen.
In der Schwebe ist auch die Teilnahme der Schweiz an der Europäische Eisenbahnagentur (ERA), die für die Zulassung von Rollmaterial im internationalen Bahnverkehr zuständig ist. Aktuell existiert eine Übergangslösung mit der EU, die jedoch jährlich verlängert werden muss. Ende Jahr ist es wieder so weit. Ob die EU einer erneuten Verlängerung zustimmen wird, ist ungewiss. Ein Ausschluss aus der ERA würde mehr administrativen Aufwand bedeuten.
Unvorhergesehene Konsequenzen
Auch die Nicht-Assoziierung am EU-Forschungsprogramm «Horizon Europe» hatte mehr Konsequenzen als ursprünglich angenommen. Nicht nur erhalten Forschende aus der Schweiz keine EU-Fördermittel mehr und können nicht mehr überall teilnehmen – so etwa beim Quantum-Flagship-Projekt.
Die Schweiz wurde auch aus dem Europäischen Strategieforum für Forschungsinfrastrukturen (ESFRI) ausgeschlossen, wie Anfang Jahr bekannt wurde. Das klingt zwar unspektakulär, ist aber für die Spitzenforschung sehr wichtig: Denn es geht um strategische Investitionen und wissenschaftliche Exzellenz.
Weiter geht auch die von der EU ausgelöste Erosion des Abkommens über technische Handelshemmnisse (MRA). Während die Medizinprodukte- und In Vitro-Diagnostik-Industrie bereits ihren privilegierten Zugang zum EU-Binnenmarkt verloren haben, steht dies der Maschinenbau-Branche 2025 noch bevor.
Immer mehr Branchen betroffen
Die ungeklärte Situation Schweiz-EU setzt immer mehr Branchen zu – Auch die Schoggi-Hersteller werden nicht verschont. Denn die neue EU-Entwaldungsverordnung zum Schutz des Waldes verlangt, dass künftig beim Import von Kakao und anderen Rohstoffen neu bestimmte Daten in ein EU-System eingeben werden müssen.
Schweizer Schokoladen-Hersteller brauchen daher den Zugang zu diesem EU-System. Doch Brüssel machte bereits klar, dass ein dazu notwendiges Abkommen von den Fortschritten der aktuellen Gesprächen Schweiz-EU abhängt. Chocosuisse, Verband der Schweizer Schokolade-Produzenten, arbeitet daher bereits an einem Plan B.
Auch für Schweizer Touristinnen und Touristen hat die ungeklärte Beziehung zur EU ärgerliche Folgen – in Form von hohen Roaming-Gebühren im Ausland. Das Bundesamt für Kommunikation (Bakom) war deswegen bereits aktiv geworden und hatte seine Fühler in Richtung Brüssel ausgestreckt. Doch es blieb dabei. «Mit dem Scheitern des Rahmenabkommens dürften die Chancen für ein Abkommen mit der EU bezüglich Roaming klein sein», schrieb das Bakom.
Auf Besserung ist wohl erst zu hoffen, wenn der Bundesrat das Verhandlungsmandat verabschiedet hat. Doch allzu sicher darf man sich auch dann nicht fühlen. Denn hat Brüssel den Eindruck, die Schweiz spiele während den Verhandlungen auf Zeit, dürfte sie die Schraube wieder anziehen. (awp/mc/ps)