An einer Pressekonferenz vom 29. April stellte Bundesrätin Viola Amherd, Vorsteherin des VBS, den in die Vernehmlassung gegebenen neuen Sicherheitspolitischen Bericht (SipolB) des Bundesrates vor. Die Kritik an früheren Berichten, dass diese immer länger würden, trifft auf den neuesten Entwurf nicht mehr zu. Umfasste der Sicherheitspolitische Bericht von 2016 noch 126 Seiten, fällt er 2021 mit 43 Seiten fast so kurz aus wie der «Erstling» von 1973.
Von Dr. Fritz Kälin
Sicherheitspolitik muss nicht bedrohungsobsessiv, sondern zielorientiert sein
Das Wichtigste, was ich in meiner Dissertation über die «Gesamtverteidigung» – und mit ihr über die Sicherheitspolitischen Berichte von 1973, 1990 und 2000 – gelernt habe: Die selbstgesteckten Ziele sind für die konkrete Ausgestaltung des sicherheitspolitischen Instrumentariums noch bedeutsamer als die ausgemachten Bedrohungen für die innere und äussere Sicherheit. Neutrale Kleinstaaten, nukleare Supermächte und in Allianzen eingewobene Mittelmächte sahen sich im Kalten Krieg auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs denselben Bedrohungen gegenüber. Ihre Dispositive waren aber aufgrund unterschiedlicher Ziele und historischer Erfahrungen äusserst unterschiedlich ausgestaltet. Auch heute liest man in britischen, norwegischen, amerikanischen und schweizerischen Zeitungen dieselben Worte, wenn über Bedrohungen geschrieben wird. Gegen «hybride» und «Cyber»-Bedrohungen wird mehr «Resilienz» gefordert. Aber welche Ziele setzt sich der Bundesrat im 21. Jahrhundert in einer (wieder vermehrt) «zum Machtgebrauch gewillten Umwelt», um eine berühmte Formulierung aus dem ersten SipolB 1973 zu zitieren?
Von vier verfassungsbezogenen Zielen 1973 zu neun bedrohungsorientierten Zielen 2021
Sicherheitspolitische Ziele sind in Essenz das, für deren Erreichung eine Nation gewillt ist, ihre Soldaten (bei uns Bürgerinnen und Bürger in Uniform) zu opfern. Hierzu ein Zitat aus dem Einleitungsvotum von Frau Bundesrätin Amherd an der Pressekonferenz:
«Der Bericht enthält eine umfassende Analyse unseres Umfelds, der weltweiten Trends sowie der konkreten Bedrohungen und Gefahren für die Schweiz. Daraus abgeleitet zeigt er auf was die sicherheitspolitischen Ziele und Interessen der Schweiz sind und wie wir diese umsetzen wollen.»
Im SipolB21 werden die «Sicherheitspolitischen Ziele und Interessen» erst nach einer 20-seitigen Bedrohungsaufzählung aufgeführt. Diese Reihenfolge lässt Rückschlüsse auf die Denkweise der Berichtsautorinnen und -autoren zu. Bislang leiteten Sicherheitspolitische Berichte ihre Ziele direkt aus der Bundesverfassung ab. Im Entwurf für den neuesten Bericht fehlt der Verfassungsbezug völlig. Das Wort «Unabhängigkeit», als Verfassungsauftrag in allen Berichten enthalten, im Erstbericht von 1973 sogar sieben Mal genannt, findet sich im 2021er-Bericht kein einziges Mal. Im SipolB von 1973 konnte jeder Armeeangehöriger sogar dem Inhaltsverzeichnis entnehmen, wofür sein Land ihm jedes Opfer abverlangen würde:
- Wahrung des Friedens in Unabhängigkeit;
- Wahrung der Handlungsfreiheit;
- Schutz der Bevölkerung;
- Behauptung des Staatsgebietes.
Was für Ziele nennt der neueste Bericht? Es sind neun Ziele «die in der Schweizer Sicherheitspolitik in den nächsten Jahren als Schwerpunkte verfolgt werden sollen». Allein deren wortwörtliche Aufzählung würde schon den Umfang dieser Kolumne sprengen. Picken wir das erstgenannte Ziel heraus, das innerhalb der neun Schwerpunkte eine besondere Priorität haben dürfte:
1) die weitere Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen, Gefahren und Krisen, um in der zunehmend volatilen Lage Risiken für die Schweiz möglichst früh zu erkennen;
Der bisherige Chef des Nachrichtendienstes (NDB), Jean-Philippe Gaudin, ist bekannt dafür, dass er auch unangenehme Dinge wie Bedrohungen beim Namen nennt. Er erreichte damit eine substantielle Stärkung seines für die Früherkennung von Bedrohungen zuständigen Dienstes um 100 Stellen. In einer Zeit der wieder mit härteren Bandagen ausgetragenen Machtpolitik, einschliesslich einer Wiederaufrüstung in Europa, galt Gaudin mit seinem langjährigen militärischen Hintergrund bei den Sicherheitspolitikern als geeignete Besetzung. Im Mai, zwei Wochen nach Bekanntgabe des Ziels «Stärkung der Früherkennung von Bedrohungen», informierte das VBS die Öffentlichkeit, dass NDB-Direktor Gaudin den NDB Ende August verlassen wird. Bei der Neubesetzung des NDB-Direktorpostens ruhen auf der VBS-Vorsteherin hohe Erwartungen, gerade mit Blick auf ihr selbstformuliertes oberstes sicherheitspolitisches Ziel der nächsten Jahre.
Sicherheit für alle (bitte verständlich) Bundesrätin Amherd sagte an der Pressekonferenz auch: «Sicherheit soll nicht nur ein Thema für Expertinnen und Spezialisten sein. Es ist für den Alltag und die Zukunft der ganzen Bevölkerung relevant.» Da sie und die Armeespitze propagieren, dass Frauen sich vermehrt freiwillig verpflichten sollen, für ihr Land notfalls zu kämpfen und zu sterben, wäre eine etwas allgemeinverständlichere Sprache eine erste Hilfe für mehr Gleichberechtigung. Dem Bericht ist deshalb zu wünschen, dass in der Vernehmlassung eine Rückbesinnung auf die Verfassungsziele eingefordert wird. Worte wie «Freiheit», «Unabhängigkeit» und «Staatsgebiet» sind anders als Trendbegriffe wie «hybrid», «cyber» oder «Resilienz» etwas, worunter sich nicht nur Expertinnen und Spezialisten etwas vorstellen können.
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