Abstimmung: Mehr private Überwachung, mehr Fehlanreize für Bauern und mehr Schein-Freiheit
In etwas mehr als drei Wochen können die Abstimmenden Stellung nehmen zu Anliegen, welche von «historisch» bis «irgendwie völlig schwachsinnig» alle Bedeutungsgrade abdecken. Demokratie vom Feinsten und zunehmend ein gefährdetes Gut bei der globalen Entwicklung, die aktuell zunehmend von Despoten, Populisten und gewählten Politikern mit einem gefährlichen Hang zu Diktatur und Einheitsmeinung geprägt wird.
Von Helmuth Fuchs
Die Selbstbestimmungs-Initiative (SBI) spricht den gut verankerten helvetischen Reflex gegen «fremde Richter» an. Wilhelm Tell lässt grüssen. Die Bayern habe das unnachahmlich elegant auf die Kürzestform gebracht: «Mia san mia». Wer bestimmt nicht gerne vollkommen unabhängig und selbst über Alles (ich meine jetzt abgesehen von Putin, Kim Jong-un, Erdogan etc.)? In der Sache ist aber eben jedem klar, dass das schon in einer Beziehung ab zwei Personen nicht mehr funktioniert. Ab da wird das Handeln des Gegenübers auf die eigene Entwicklungsmöglichkeit bewertet, gewogen, kritisiert und wenn möglich angepasst. Die Schweiz hat ihre Position gegenüber grösseren Partnern bis anhin erfolgreich verargumentiert und sich wichtige Vorteile erkämpft. Dies hat Kompromisse erfordert. Die Selbstbestimmungsinitiative wäre in ihrer Kompromisslosigkeit eine Schwächung der Schweizer Position in künftigen Verhandlungen. Das haben ausser der SVP praktisch alle Parteien, Verbände (auch der Schweizerische Gewerbeverband) und Interessensgruppen erkannt und sind gegen dieses Initiative. Purer Egoismus funktioniert auf lange Sicht in keiner Beziehung.
Fast so wichtig wie der Inhalt der Initiative ist in diesem Fall aber das Verhalten der Initiantin, der SVP. Die Partei tut sich offensichtlich zunehmend schwer mit der Erkenntnis, dass sie auch als wählerstärkste Partei der Schweiz nicht über einen Drittel der Stimmberechtigten hinaus wächst und per Definition eine Minderheiten-Partei bleibt. Zahlreiche Erfolge in früheren Abstimmungen liessen offenbar den Anspruch aufkommen, dass sie «das Volk», «die echten Schweizer» vertrete und damit alle anderen in der Minderheit seien. Nach einer Abstimmung geht es jedoch in der Umsetzung darum, breiten Konsens mit den anderen Parteien zu finden, politische Überzeugungsarbeit zu leisten (national und international), um die Anliegen möglichst nahe an der Intention umzusetzen. Hier scheiterte die SVP oft, da eben auch bei einem Abstimmungssieg, bei welchem 40% der Abstimmenden mit 51% zustimmten, dies zwar in der Bevölkerung ein starkes Meinungssignal aber kein Mandat zum diktatorischen Durchregieren ist.
Erstaunlicher als die sich abzeichnende Ablehnung der SBI-Initiative ist die aktuelle Zustimmung zum Gesetz zur Überwachung von Versicherten, widerspricht sie doch geradezu diametral dem oben dargelegten Freiheitswillen und der Ablehnung (art)fremder Richter. Hatte bis anhin die Polizei das Monopol zur qualifizierten Überwachung, soll mit der neuen Regelung dieses auf die Sozial-Versicherungen ausgedehnt werden (IV, Unfall-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung). Diese sollen neu auch ohne richterliche Beschlüsse Versicherte nach eigenem Gutdünken überwachen dürfen (Bild- und Tonaufnahmen) und zwar in alle Räume, welche von öffentlichem Grund her einsehbar sind. Das umfasst theoretisch auch Schlafzimmer, Baderäume, auch wenn die Befürworter eifrig versichern, dass man das selbstverständlich nicht wolle. Im Zweifelsfall gilt der Gesetzestext und dieser schliesst solche Räume nicht aus. Heute veranlassen die Versicherungen rund 250 Überwachungen pro Jahr, von denen mehr als zwei Drittel zur Überführung von Betrügern führen. Das ist eine sehr gute Erfolgsquote und zeigt, dass das bestehende System funktioniert und die Überwachung auch nicht überhand nehmen kann. Dass hier die Stimmenden offenbar für ein paar hundert Betrüger den Sozialversicherungen ungehemmt Einblick in ihre Privatsphäre gewähren ist zumindest erstaunlich. So viel forcierte Offenheit würde gegenüber von Steuerbetrügern finanziell sehr viel lukrativer sein.
Zum Schluss noch zu einer der wohl unsinnigsten Abstimmungen der jüngeren Geschichte, zur Hornkuh-Initiative. Ein Kleinbauer, gelegentlichem Rauchen sinneserweiternder Mittel nicht völlig abgeneigt, hat nach einem Gespräch mit seinen Kühen (!) eine Initiative ergriffen, dass Bauern belohnt werden sollen, wenn sie ihren Kühen die Hörner nicht wegbrennen oder abschneiden. Und das soll so in die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft geschrieben werden. Die Befürworter argumentieren damit, dass den Tieren durch das Entfernen der Hörner beachtliches Leid zugefügt und das ganze Kuhleben beeinträchtigt würde. Dass dies bei Hornkühen zutrifft (es gibt auch genetisch hornlose Kühe), ist nachvollziehbar. Der einfachste Weg wäre dann aber, das Tierschutzgesetz so anzupassen, dass die Verstümmelung von Kühen gleich behandelt wird wie zum Beispiel das Koupieren von Hundeohren und -Schwänzen. Die Missachtung des Tierwohl sollt bestraft und nicht das Einhalten des Tierwohles zusätzlich belohnt werden. Die Bauern, die sich immer als Unternehmer verstehen, sind offenbar ohne Vorschriften oder Zusatzzahlungen nicht in der Lage, selbst zu entscheiden, ob sie ihren Kühen die Hörern lassen oder nicht.
In derselben Logik könnten man argumentieren, dass das Schlagen der Kinder als Erziehungsmittel geduldet werden sollte. Eltern, die ihre Kinder nicht schlagen sollten dann zusätzliche Kindergeldzahlungen erhalten.
Unabhängig davon, welche Meinung man zu den Initiativen und Vorlagen hat: Es ist kein selbstverständliches Privileg, sondern das Resultat der Kämpfe unserer Vorfahren, dass wir als Schweizer Stimmbürger dazu Stellung nehmen können. Das verdient mehr als die Aufmerksamkeit von 40 Prozent der Bevölkerung, zumal man sich zur Wahrnehmung des Stimmrechtes nicht einmal mehr auf die Strasse begeben muss.