Engelberg – «Es ist ein Mythos zu glauben, dass es nützlich ist, die wirtschaftlichen Vorteile der Migration von den übrigen Aspekten zu trennen. Denn hinter jedem Migrationswilligen steht ein Mensch, das wird leider in der öffentlichen Debatte oftmals vergessen.» Mit diesem Apell beendeten die elf jungen Wissenschaftler die «Engelberg Dialogues 2018» im Barocksaal des Klosters Engelberg.
Vier Tage drehte sich im Klosterdorf Engelberg alles um das Thema Migration. Rund 100 Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft diskutierten über deren positive und negative Aspekte für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
Versachlichung der Diskussion
In seiner Präsentation forderte der frühere Diplomat und heutige ETHProfessor Michael Ambühl, eine Abkehr von bisherigen Argumentationen: „Wir müssen akzeptieren, dass Migranten aus der EU in die Schweiz kommen. Im Gesundheitswesen und in der Forschung profitieren wir ausserordentlich davon. Das Personenfreizügigkeitsabkommen hat aber nicht nur Vorteile für die Schweiz. Vielmehr sollten wir eine neue Schutzklausel mit konkreten Parametern entwickeln, die es erlauben, die Zuwanderung zu regulieren, ohne den Rahmen des Abkommens mit der EU zu sprengen“. In seinem Vortrag stellte Michael Ambühl eine entsprechende Formel vor: „Mit objektiven Zahlen wie der Durchschnittszuwanderung pro Land im Vergleich mit allen EU-Ländern, Anzahl ausländischer Arbeitnehmer aus der EU sowie aus Drittländern und der Arbeitslosenrate können wir einen Mechanismus schaffen, der die Migrations-Debatte auf eine sachliche Ebene verlagert. Das System könnte für alle EU-Länder gelten.“
Bereicherung und Verpflichtung
„Aus unternehmerischer Sicht sind hochqualifizierte ausländische Mitarbeitende unverzichtbar. Nur so kann die Schweiz ihren Spitzenplatz im internationalen Umfeld halten. Der Austausch mit den ausländischen Kolleginnen und Kollegen ist zudem auch eine grosse Bereicherung“, erläuterte Dr. Giovanna Davatz, Arktis Radiation Detectors Ltd aus Zürich. Wer im globalen Wettbewerb bestehen wolle, müsse die besten Talente verpflichten können. Im Forum präsentierte sie die Erkenntnisse aus ihrem Workshop: „Wir diskutierten unter anderem, wie die Integration von Arbeitsmigranten verbessert werden könnte. Ein Ansatz sieht die Integration in den Zivilschutz oder die Feuerwehr vor. Ebenfalls wichtig ist das Stimm- und Wahlrecht für Migranten, die fünf Jahre hier leben. Auch ein Namenswechsel wurde diskutiert. Anstelle von Migranten könnte ein positiver Begriff „Global Shakers and global Shapers“ verwendet werden, der die aktive Rolle dieser Arbeitsmigranten unterstreicht. Aber auch Firmen und Universitäten seien in der Pflicht, mehr für die Integration ihre ausländischen Mitarbeitenden zu unternehmen. Ihre Präsentation beendete sie mit einem Appell: „Wir müssen Migration als etwas ganz alltägliches betrachten. Machen wir den ersten Schritt und begrüssen neue Nachbarn in unserem Umfeld persönlich. Das ist gelebte Integration.“
Solide Migrationspolitik gefordert
In seiner Präsentation zu den ökonomischen Auswirkungen von Migration innerhalb Europas hob Prof. Dr. George Sheldon drei wichtige Punkte besonders hervor: „Mit der Betrachtung der Nettomigration wird man der Situation nicht gerecht. Die Masseneinwanderungsinitiative basierte auf der Aussage, dass immer mehr Menschen zuwandern. Objektiv nahm die Zahl allerdings 2002 (Einführung des Euros) ab und gleichzeitig blieben mehr Zugewanderte länger in der Schweiz, was den falschen Eindruck einer stetig steigenden Zuwanderung ergab. Als zweites müssen wir bei der Beurteilung der Auswirkungen von Einwanderung auf den Arbeitsmarkt zwischen exogener und endogener Migration unterscheiden. Mit exogener Migration sind Arbeitskräfte gemeint, die von sich aus in die Schweiz auf Arbeitssuche kommen. Endogene Migranten hingegen werden gezielt für spezialisierte Aufgaben in der Schweizer Wirtschaft rekrutiert. Und als Drittes sollten sich Politiker bei der Entwicklung einer soliden Migrationspolitik stärker auf Ursachen und Auswirkungen der Rückkehrmigration konzentrieren. Denn Migranten mit höherer Ausbildung ziehen öfters von Land zu Land als Migranten mit tieferer Ausbildung, die sich oftmals in der Schweiz für immer niederlassen.“
Wirtschaft versus Gesellschaft
Die Vor- und Nachteile des Personenfreizügigkeitsabkommens innerhalb der EU zeigte der renommierte Migrationsforscher Prof. Christian Dustmann, University College London, in seiner Präsentation anhand von verschiedenen Beispielen auf: „Die Liberalisierung der Migrationspolitik bringt potenziell enorme Vorteile mit sich. Es gibt jedoch Gewinner und Verlierer. Die Migrationspolitik wird weniger von ökonomischen Argumenten, denn von subjektiven Aspekten inklusive Angstmacherei dominiert. Dies hat dazu geführt, dass rechte Parteien das Thema für sich besetzt haben und damit massiv Wähleranteile gewinnen konnten. Die Diskussion über die wirtschaftlichen Vorteile der Migration ist in jedem Land eine Gratwanderung.“
Abwanderung stoppen
Anhand von drei Praxisbeispielen erhielten die Kongressteilnehmer Einblick in die Migrations-Situation in Montenegro und Schweden. Die Physikerin und ehemalige Mitarbeiterin des CERN in der Schweiz und nun Montenegrinische Wissenschaftsministerin Dr. Sanja Damjanović präsentierte die Idee für ein internationales Institut in der Region des Westbalkans. Dort sollen nachhaltige Technologien dank des internationalen Netzwerkes CERN aufgebaut werden und auf einer integrierten Sichtweise der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Aspekte basieren. Zudem würde es dazu beitragen, die wirtschaftliche Situation zu verbessern, attraktive Arbeitsplätze insbesondere für junge Menschen, zu schaffen und die Abwanderung von Hochqualifizierten aus der Westbalkanregion umzukehren.
Eine interessante Einsicht in die bis vor kurzem liberale schwedische Migrationspolitik und wie die Right wing Politik diese kürzlich zum Stoppen brachte, bot die ehemalige schwedische Ministerin Prof. Dr. Ewa Björling.
Junge Wissenschaftler ausgezeichnet
Elf junge Wissenschaftler aus Belgien, Bulgarien, Montenegro, Norwegen und der Schweiz arbeiteten im Rahmen der Autumn Academy drei Tage an verschiedenen Themen zur Migration. Fragen wie die Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften aus armen Ländern in Industrienationen, Personenfreizügigkeit versus Regulatorien oder die Auswirkungen der Familienzusammenführung auf die Situation von Migranten im Arbeitsmarkt standen im Zentrum. Die drei besten Arbeiten wurden mit einem Award ausgezeichnet. Zum Abschluss der Tagung genossen die in- und ausländischen Teilnehmer inmitten der Alpenwelt bei Sonnenuntergang die Fahrt auf den Titlis mit einem Candlelight-Dinner. Der gesellige Anlass bot die letzte Gelegenheit, das Kontaktnetz zu pflegen und neue Freundschaften aufzubauen. (Academia Engelberg/mc/hfu)