Entschädigungs-App soll SBB Weg in digitale Zukunft weisen
Bern – Die SBB sind diesen Sommer im Ausnahmezustand: Insgesamt 30 Baustellen, drei davon nicht nur gross, sondern riesig, beeinträchtigen die Reisenden. Vor diesem Hintergrund haben die Verantwortlichen am Montag vor den Medien um Verständnis geworben.
Vom 30. Juni bis 26. August gilt bei den SBB in diesem Jahr ein Sommerfahrplan. Das ist ein Novum; ebenfalls neu ist die Entschädigung für Reisende auf der Strecke von Lausanne nach Puidoux-Chexbres – die allerdings an eine App gebunden ist.
Vor allem Letzteres hat für Kritik gesorgt, weil diese App nur auf der neuesten Handygeneration funktioniert und weil Reisende, die ein solches Smartphone nicht besitzen, auch keine Entschädigung geltend machen können. Zudem wird die Entschädigung nur in SBB-Gutscheinen und nicht bar entrichtet. Dieser Kritik sind die Verantwortlichen bei den SBB nun, nach etwa der Hälfte der Geltungsdauer des Sommerfahrplans, mit einem Zwischenfazit entgegengetreten.
Bewegungsdaten für künftige Krisen
So stellte Linus Looser, bei den SBB Leiter Verkehrsmanagement Personenverkehr, weniger die Entschädigung als solche in den Vordergrund, sondern dass es sich dabei um ein «mindestens in Europa einzigartiges Pilotprojekt» handle. Per Post erhalten Reisende, die wegen der Baustelle zwischen Lausanne und Chexbres während mindestens zehn Tagen über 20 Minuten länger unterwegs sind, einen Gutschein von 100 Franken.
Laut Looser nehmen 1500 Personen an dem Pilotprojekt teil, rund 2500 Reisen seien bereits registriert worden, und die ersten Kunden hätten die vorgegebenen 10 Reisetage erreicht. «Die Anzahl der registrierten Personen entspricht rund 10 Prozent der Reisenden und genügt für den Pilot», sagte Looser.
Der Punkt für die SBB ist, dass mit der Registrierung über die App nachvollzogen werden kann, wer sich wirklich auf der entsprechenden Strecke bewegt (tracking). Mit dem Pilot-Projekt wollen die SBB austüfteln, wie sie künftig von sich aus Kunden beispielsweise über einen Streckenunterbruch und alternative Reisemöglichkeiten oder eine Entschädigung informieren können. Bis anhin gilt das Hol-Prinzip, wonach Kunden von sich aus aktiv werden müssen; künftig wollen die SBB ein Bring-Prinzip, wodurch das Unternehmen die Kunden informieren kann.
Aus Sicht des Bahnunternehmens sind demnach die 100 Franken Entschädigung ein Anreiz, dass sich die Kunden am Pilotprojekt beteiligen. Looser sagte denn auch: «Mit diesem Pilot prüfen wir einen Weg in die digitalisierte Zukunft.» Ein Fazit wollte er noch nicht ziehen.
Pilotprojekt in überschaubarem Rahmen
Dabei sehen sich die SBB mit besonderen Problemen konfrontiert, anders als beispielsweise die französischen SNCF. Dort müssen Kunden immer einen Platz reservieren und liefern damit dem Unternehmen ihre Daten. In der Schweiz hingegen ist der öffentliche Verkehr verhältnismässig offen: Kunden kaufen ein Billett und liefern damit den SBB keine Informationen, ob sie von einem Vorfall betroffen und allfällig zum Bezug einer Entschädigung berechtigt sind.
Looser räumt ein, dass die SBB im Rahmen des Pilotversuchs am Tracking noch arbeiten müssen, dass es «noch umfassende Kalibrierungsmassnahmen» brauche. Um mit dem Pilot zu verwertbaren Ergebnissen zu kommen, haben sich die SBB entschieden, das Projekt räumlich auf die Romandie zu beschränken, also einen überschaubaren Rahmen zu haben. Nicht zuletzt deswegen werden die Entschädigungen nur für die Einschränkungen im Zusammenhang mit der Grossbaustelle Lausanne-Puidoux-Chexbres angeboten und nicht für alle drei Grossbaustellen.
Darüber hinaus wollen die SBB auch Rückmeldungen von Kunden, die nicht am Pilot teilnehmen. Für die nächsten Wochen plant das Bahnunternehmen eine Kundenumfrage mit Fragebögen auf Papier.
«Kurz und intensiv» spart 29 Millionen
Um für Akzeptanz der gesamten Baumassnahmen zu werben, wiederholte Looser grundsätzlich die Hauptargumente, die auch schon im Vorfeld des riesigen Bauprogramms angeführt wurden: Man habe sich für die Variante «kurz und intensiv» entschieden. «Das bringt zwar grössere Auswirkungen für die Kunden mit sich, verkürzt aber dafür die Bauzeit mit Lärmbelästigungen und reduziert die Gesamtbaukosten», sagte Looser.
Konkret: Ganze Streckenabschnitte während der Bauzeit komplett gesperrt oder nur teilweise befahrbar. So herrscht auf den Baustellen rund um die Uhr Betrieb und nicht nur, wie bis anhin üblich, während der wenigen Nachtstunden.
Dadurch verkürzt sich die Bauzeit auf den drei Grossbaustellen: zwischen Gelterkinden und Tecknau (BL) um 2,5 Monate, auf dem Abschnitt St. Gallen – St. Gallen-Winkeln um 3 Monate und auf dem Abschnitt Lausanne – Puidoux – Chexbres (VD) gar um 8 Monate.
Die Kosten reduzieren sich durch diese Vorgehensweise um insgesamt 29 Millionen Franken. Die Baustelle im Baselland kostet 7,8 Millionen Franken weniger, in St. Gallen 7,2 Millionen und im Waadtland gar 14 Millionen weniger.
Insgesamt geben die SBB jährlich rund 700 Millionen Franken für den Unterhalt ihres Bahnnetzes aus. Finanziert werden diese Aufwendungen über die Leistungsvereinbarung zwischen Bund und SBB, über Trassenerträge, Ausgleichszahlungen von SBB Immobilien und die Billett-Einnahmen.
Zur Halbzeit des Sommerfahrplans ziehen die SBB insgesamt eine positive Bilanz: Der Betrieb verlaufe störungsfrei und stabil; die Pünktlichkeit habe sich auf 92 Prozent erhöht. Bei 1,26 Millionen Reisenden pro Tag haben sich die täglichen Anrufe auf der Hotline bei 80 eingependelt. Schriftlich melden sich rund 120 Kunden pro Woche. «Wir haben mit mehr gerechnet», sagte Looser.
Die Anfragen drehten sich mehrheitlich um eine Bestätigung des Fahrplans, oder es kämen Beschwerden zu Bahnersatzbussen, die nicht klimatisiert seien und zu ungewohntem Rollmaterial. Insgesamt müssten während des Sommerfahrplans rund 95 Prozent des Rollmaterials im Fernverkehr und etwa 70 Prozent des Personals neu geplant werden. (awp/mc/ps)