Expertengruppe kritisiert verschiedene Bereiche der Corona-Bewältigung der Behörden
Bern – Die Behörden von Bund und Kantonen haben im ersten Pandemiejahr «weitgehend angemessen und zeitgerecht reagiert». Das zeigt eine externe Evaluation. Bei der Krisenvorbereitung, der Digitalisierung und der Rollenverteilung ist demnach jedoch vieles verbesserungswürdig.
Der am Dienstag publizierte Bericht zeigt, dass Bund und Kantone die Pandemie insbesondere vor der zweiten Welle im Herbst 2020 unterschätzt hatten, was schliesslich zu einer höheren Übersterblichkeit führte. «Die Krisenorganisation hat sich in dieser Phase nicht bewährt», sagte Studienleiter Andreas Balthasar vom Forschungszentrum Interface vor den Medien in Bern.
Mit dabei hatte er den Evaluationsbericht, den der Bund selbst zu Beginn der Krise bestellt hatte. Balthasar analysierte mit einem in- und ausländischen Expertengremium die Covid-19-Krisenbewältigung der Behörden vom Frühjahr 2020 bis im Sommer 2021.
Das Team schaute über 3000 Dokumente an, wertete Medienberichte aus und verglich die Schweizer Daten mit jenen aus Österreich und Schweden. Basis waren auch eine repräsentative Bevölkerungsbefragung und zahlreiche Interviews, etwa mit Verantwortlichen von Alters- und Pflegeheimen.
«Grosses Leid» in Altersheimen
Laut der Expertengruppe kamen die Fehler im Krisenmanagement zustande, weil das Bundesamt für Gesundheit (BAG) in der ersten Pandemiephase mit bereits länger bestehenden Problemen zu kämpfen hatte. Beispielsweise fehlte eine digitale Strategie. Auch eine Lagerhaltung von Schutzmaterial existierte nicht. Diese Punkte hätten sich nicht kurzfristig lösen lassen.
Ebenfalls seien Abläufe innerhalb des BAG vorgängig nicht klar definiert worden. «Die Krisenhandbücher des Amts waren nicht breit bekannt», heisst es im Bericht. Insgesamt sei das BAG «organisatorisch unzureichend auf die Corona-Pandemie vorbereitet» gewesen.
Als «nicht angemessen» beurteilt wurden etwa die Schulschliessungen im Frühling 2020. «Diese führten zu grossen Belastungen von Eltern, Kindern sowie Jugendlichen und ziehen möglicherweise einschneidende Folgen für die Bildungsentwicklung zahlreicher Kinder und Jugendlicher nach sich», heisst es im Expertenbericht. Weiter sei die Angemessenheit des Verbots von nicht dringend angezeigten medizinischen Eingriffen infrage zu stellen.
Auch der Umgang mit besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen – also älteren Menschen und Menschen in Alters- und Pflegeheimen – wird kritisch bewertet. Die strengen Schutzmassnahmen in Form von Ausgangs- und Besuchsverboten hätten «zu grossem Leid» sowie zum Teil zu «negativen gesundheitlichen Auswirkungen» bei den Bewohnenden sowie deren Angehörigen geführt.
Bund zeigt sich selbstkritisch
Trotz der Kritik betonte Balthasar, dass die Behörden die Krise grundsätzlich gut bewältigt hätten. Die Gesundheitsversorgung sei «stets in hoher Qualität gewährleistet» gewesen. «Das BAG hat den Auftrag, die Bevölkerung zu schützen, sehr ernst genommen.»
Zudem seien die Corona-Massnahmen bei der Bevölkerung auf breite Akzeptanz gestossen. Die Angemessenheit verschiedener, zum Teil umstrittener Massnahmen seien sowohl von der Stimmbevölkerung als auch vom Bundesgericht bestätigt worden.
«Ich bin erleichtert, zu hören, dass wir vieles sehr gut gemacht haben», sagte BAG-Direktorin Anne Lévy nach der Vorstellung des Berichts. Gleichzeitig sei ihr bewusst, dass vor allem in den ersten Monaten der Pandemie Fehler passiert seien.
Lévy gab zu bedenken, dass die Behörden in sehr kurzer Zeit Entscheide von grosser Tragweite hätten treffen müssen. Zudem sei das Personal am Anschlag gewesen. «Viele arbeiteten 17 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.» Über 200 Covid-Geschäfte habe ihr Amt im Vorfeld von Bundesratssitzungen vorbereitet.
«Flexibler auf Krisenmodus umstellen»
Die BAG-Chefin betonte, dass die Lehren aus der Krise gezogen worden seien und weiterhin gezogen würden. Das geschehe im Rahmen der Revision des Epidemiengesetzes und des nationalen Pandemieplans. Beides soll bis 2024 abgeschlossen sein.
Parallel dazu laufen weitere Untersuchungen, darunter die von der Bundeskanzlei geleitete Gesamtevaluation des Krisenmanagements des Bundes. Auch die Kantone und die Aufsichtskommissionen des Parlaments werten derzeit die Bewältigung der Pandemie aus.
«Es braucht eine verbindlichere Pandemievorsorge», sagte Michael Jordi, Generalsekretär der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK), an der Medienkonferenz. Die Rollenverteilung zwischen Bund und Kantonen müsse besser geklärt werden. Einheitliche Massnahmen müssten auf nationaler Ebene beschlossen werden.
Auch die Kantone selbst nahm Jordi in die Pflicht. So müssten die Meldesysteme für die Auslastung der Spitalinfrastruktur automatisiert werden. Wenn nötig, müssten die Kapazitäten temporär substanziell erhöht werden können. «Wir müssen noch flexibler auf den Krisenmodus umstellen.» (awp/mc/pg)