Zürich – Bis 2030 werden die Gesundheitskosten voraussichtlich um 60 Prozent auf insgesamt CHF 116 Mrd. steigen, wie das Wirtschaftsprüfungs- und Beratungsunternehmen EY Schweiz in ihrer aktuellen Krankenversicherungsstudie schätzt. Das Schweizer Gesundheitssystem erbringt zwar Spitzenleistungen, ist aber im Vergleich mit anderen Industrieländern teuer. Die Gesundheitskosten haben sich in den letzten 25 Jahren mehr als verdoppelt. Dafür verantwortlich sind hausgemachte Faktoren wie Fehlanreize und Ineffizienzen sowie exogene Faktoren wie der medizinische Fortschritt, die Zunahme chronischer Erkrankungen und die Überalterung der Gesellschaft. Eine Trendwende ist nicht in Sicht.
Verdopplung der Krankenkassenprämien bis 2030
Der Kostenanstieg wird Privathaushalte stark belasten: Unter den aktuellen Rahmenbedingungen werden die monatlichen Grundversicherungsprämien pro Person von derzeit durchschnittlich 396 auf weit über 800 Franken im Jahr 2030 steigen. «Diese massive Kostensteigerung reduziert die Kaufkraft der privaten Haushalte signifikant. Ein Grossteil der Bevölkerung kann dann die Prämien der obligatorischen Krankenversicherung nicht mehr tragen. Auch werden sich nur noch wenige Menschen Zusatzversicherungen leisten können. Ohne einschneidende Gegenmassnahmen ist ein finanzieller Kollaps der Grundversicherung mittelfristig nicht ausgeschlossen», sagt Yamin Gröninger, Leiterin Insurance Business Development bei EY Schweiz und Mitautorin der Studie. «Es drohen weitere staatliche Interventionen bis hin zu einem erneuten Aufflammen der Debatte um die Einheitskasse.» Es liegt somit im Interesse der Krankenversicherer, über ihre betrieblichen Kosten hinaus einen Beitrag zur Effizienz im Gesundheitswesen zu leisten.
Krankenversicherer strategisch mehrfach gefordert
Das ist aber bei Weitem nicht die einzige strategische Herausforderung für die Krankenversicherer: Die Branche liefert sich einen Verdrängungswettbewerb, Gewinne sind in der Grundversicherung verboten und in der Zusatzversicherung nur in engen Bandbreiten zulässig. Weiter ist die Branche einem einzigartigen politischen, regulatorischen, demografischen und technologisch-medizinischen Wandel ausgesetzt. Und schliesslich drängen branchenfremde Unternehmen wie Google oder Migros auf den Krankenversicherungsmarkt (sog. Disruption). «Betrachtet man alle diese Faktoren, wird schnell klar: Das heutige Geschäftsmodell der Krankenversicherer ist mittel- bis langfristig gefährdet», sagt Alexander Lacher, Mitverfasser der Studie und Co-Leiter Krankenversicherungen von EY Schweiz. «Wenn die Krankenversicherer zögern, ihre strategische Position zu schärfen, riskieren sie mittelfristig ihre Marktposition und langfristig ihre Existenzgrundlage.»
Gesundheitsdaten als Chance
Der Digitalisierung kommt bei zukunftsorientierten Strategien eine Schlüsselrolle zu: Die Krankenversicherer verfügen über umfangreiche Datenbestände, auf deren Basis sich Prävention, Früherkennung und Behandlung von Krankheiten grundlegend verbessern lassen. «Die geltenden Datenschutzvorschriften gewähren den Krankenversicherern genügend Spielraum, um die Daten zu nutzen. Sie können bereits heute die Daten der Versicherten für personalisierte Beratungen nutzen, wenn diese einwilligen. Die Unternehmen müssen dabei aber höchste Sicherheitsstandards erfüllen, um die sensitiven Gesundheitsdaten zu schützen», sagt Yamin Gröninger.
Versicherte teilen Daten wenn sie dafür Anreize erhalten
Dank Wearables, Apps und Sensoren wächst die verwertbare Menge an Gesundheitsdaten rasant an. Schon heute zeichnet rund die Hälfte der Versicherten freiwillig Gesundheitsinformationen auf, wie eine EY-Befragung zeigt. Am häufigsten werden Schritt- und Fitnessdaten gemessen. Andere medizinisch relevante Informationen wie Blutdruck- oder Cholesterinwerte werden hingegen kaum erhoben. Die meisten Versicherten wollen damit ihre sportlichen Leistungen messen oder ein Fitnessziel erreichen. Bemerkenswert ist die Bereitschaft der Versicherten, ihre Daten mit dem Krankenversicherer zu teilen: Falls sie im Gegenzug Anreize wie Prämienrabatte oder individuelle Gesundheitsberatung erhalten, würden rund 60 Prozent der Befragten ihre Gesundheitsinformationen zur Verfügung zu stellen. «Die Versicherer könnten damit innovative Angebote lancieren und sich strategisch als Gesundheitspartner positionieren», sagt Yamin Gröninger.
Evolution oder Revolution des Geschäftsmodells
Angesichts der vielen Chancen und Risiken sind die Krankenversicherer gefordert, ihre Strategien und Geschäftsmodelle zu überdenken: Entweder entwickeln sie innerhalb von bestehenden Geschäftsfeldern ihre strategische Position evolutiv weiter und überleben («Surviving») oder sie transformieren ihr Geschäftsmodell fundamental («Revolution») und erschliessen mittel- bis langfristig neue Ertragspotenziale («Thriving»). «Wachstums- und Wertschöpfungsmöglichkeiten bieten sich zum Beispiel durch die Analyse und Aufbereitung von Gesundheitsdaten. Die Einführung des elektronischen Patientendossiers begünstigt diese Entwicklung. Vielversprechend ist auch die Strategie, die Versicherten als Gesundheitspartner aktiv bei einem gesunden Lebensstil zu unterstützen. Dazu gehören datengestützte Präventionsprogramme und Beratung in Gesundheits- und Ernährungsfragen», so Gröninger.
Bedrohung durch branchenfremde Konkurrenz
Bei der Strategiefindung ist allerdings Tempo gefordert: Die Krankenversicherer verfügen über umfangreiche Gesundheitsdaten und kontrollieren die Schnittstelle zu den Kunden. Doch dieser Vorsprung schmilzt: Die rasante technologische Entwicklung erlaubt es Technologie-Unternehmen wie Apple oder Start-up-Firmen, Gesundheitsdaten zu sammeln und aufzubereiten. Punkto Digitalisierung zeigten sich die Krankenversicherer allerdings bislang zurückhaltend: «Digitale Angebote hatten primär Marketingcharakter. Die Versicherer könnten ihre gute Ausgangslage verspielen und es verpassen, sich von Kassen für Kranke zu innovativen Gesundheitspartnern zu entwickeln», warnt Alexander Lacher. (EY/mc/ps)
Informationen zur Studie «Dying, Surviving or Thriving 2 – Krankenversicherungsmarkt»
Für die vorliegende Studie haben Analysten und Branchenexperten von EY umfangreiche Datenmengen ausgewertet. Dazu zählen die Jahresberichte von Krankenversicherern, Statistiken des Bundesamtes für Gesundheit (BAG), des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) und der Eidgenössischen Finanzmarktaufsicht (FINMA). Zur Bereitschaft, Gesundheitsdaten aufzuzeichnen und mit Krankenversicherern zu teilen, hat EY zwischen September und Oktober 2016 über 400 Personen in der Deutschschweiz befragt. Weiter sind Erkenntnisse und Erfahrungen aus Prüfungs- und Beratungsmandaten von EY im Schweizer Krankenversicherungsmarkt eingeflossen. Aus Interviews mit Führungskräften führender Schweizer Krankenversicherer wurden ebenfalls wesentliche Erkenntnisse gewonnen.
Link zur Studie
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