Gewerkschaften kritisieren Zugeständnisse an Brüssel
Bern – Den Gewerkschaften gehen die Zugeständnisse der Schweiz bei den Sondierungsgesprächen mit der EU-Kommission zu weit. Es drohe ein Abbau beim Lohnschutz und beim Service Public, kritisieren sie. Sie fordern den Bundesrat zu Korrekturen auf.
Aus dem Projekt eines institutionellen Rahmenabkommens sei ein Liberalisierungsprogramm geworden, kritisierten der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und der Gewerkschaftsdachverband Travailsuisse am Montag an einer Medienkonferenz in Bern. Der Bundesrat müsse diese Fehler korrigieren.
Die vorliegenden Vorschläge seien ungenügend, sagte SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard am Montag an einer Medienkonferenz in Bern.
Die Gewerkschaften befürchten insbesondere, dass durch eine geplante gemeinsame Erklärung das Ergebnis der eigentlichen Verhandlungen vorweggenommen wird. Nun müsse der Bundesrat echte Verhandlungen führen, forderte Travailsuisse-Präsident Adrian Wüthrich. Denn man dürfe die Fragen, um die es gehe, nicht der Diplomatie und der Verwaltung überlassen.
«Eigenartiges Politikverständnis»
«Es wurde uns so eins zu eins mitgeteilt: Mehr gibt es nicht», sagte SGB-Chefökonom Daniel Lampart. Er habe die Bundesverwaltung daraufhin gefragt, was sie für ein eigenartiges Politik- und Rechtsverständnis habe.
Setze man die hiesigen Regeln nicht durch, könnten ausländische Unternehmen Schweizer Preise verlangen und ausländische Löhne zahlen, warnte Lampart: «Das wäre das Eldorado für die Firmen und die Hölle für die Arbeitnehmenden.»
Der SGB-Chefökonom betonte, in keinem Land sei die Gefahr von Lohndruck so gross wie in der Schweiz. Dies, weil ausländische Unternehmen hier viel höhere Preise verlangen und Firmen aus den Nachbarländern in ihrer Muttersprache arbeiten könnten.
Umstrittene Spesenreglung
Die Gewerkschaften stören sich insbesondere daran, dass die Schweiz das sogenannte Herkunftsprinzip bei Spesenregelungen übernehmen soll. Damit erhielten Arbeitnehmende, die in die Schweiz entsandt werden, künftig Spesenentschädigungen nach den Bestimmungen in ihrer Heimat – und nicht mehr gemäss Schweizer Gesamtarbeitsverträgen.
Schweizer Unternehmen und Arbeitnehmende hätten dadurch einen Wettbewerbsnachteil, ausländische Arbeitnehmende würden diskriminiert, lautet die Kritik. Das polnische Arbeitsrecht etwa kenne keine Spesenregelung, sagte Lampart.
Das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» drohe damit verwässert zu werden, sagte Vania Alleva, Präsidentin der Gewerkschaft Unia. Und es gehe dabei keineswegs um «Peanuts», sondern um sehr erhebliche Lohnanteile für die Betroffenen.
«Keine Verhältnisse wie in Deutschland»
Die Gewerkschaften fürchten zudem eine schlechtere Versorgung der Bevölkerung beim Strom und im Bahnverkehr. Die von der EU-Kommission verlangte Übernahme von EU-Recht in diesen Bereichen würde nach ihrer Aussage eine vollständige Liberalisierung des Strommarktes für Kleinkunden und den Marktzugang für Bahnunternehmen wie Flixtrain im internationalen Personenverkehr bedeuten.
Noch vor einem Jahr habe der Gewerbeverband gefordert, Unternehmen sollten beim Strom in die Grundversorgung zurückkehren können, sagte Maillard. Dies, weil die volatilen Preise im freien Markt für viele zur Bedrohung geworden seien.
In Europa habe die Bahn-Liberalisierung in aller Regel zu einem schlechteren Angebot, schlechteren Arbeitsbedingungen, Unpünktlichkeit und Unzuverlässigkeit geführt, sagte Matthias Hartwich, Präsident der Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV).
Bundesrat entscheidet in einigen Wochen
Dem Vernehmen nach sind die Sondierungen zwischen der Schweiz und der EU so weit abgeschlossen: Konkret wurden gemeinsame «Landezonen» als Basis für künftige Verhandlungen definiert. Die Ergebnisse aus den Sondierungsgesprächen sollen nun in einer gemeinsamen Erklärung festgehalten werden.
Anschliessend wird der Bundesrat voraussichtlich im Dezember oder Januar sein Verhandlungsmandat präsentieren und zu den beiden Aussenpolitischen Kommissionen und den Kantonen in die Konsultation schicken. Je nachdem könnten dann die Verhandlungen im kommenden Februar oder März beginnen. (awp/mc/pg)