SVP-Präsident Toni Brunner.
Bern – Seit der Abstimmung vom 9. Februar dominiert das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative die politische Agenda in der Schweiz. Am Donnerstag hat der Nationalrat eine dringliche Debatte zum Thema geführt.
Zu entscheiden gab es nichts: Der Ball liegt derzeit beim Bundesrat, der bis im Juni ein Konzept für die Umsetzung vorlegen will. Die Parteien nutzten jedoch die Gelegenheit, ihre Vorstellungen zu formulieren. Die SVP forderte eine strikte Umsetzung der Initiative, die anderen Parteien warnten vor den Folgen.
«Es ist jetzt keine Volksinitiative mehr, es ist jetzt eine Verfassungsgrundlage, und man muss sie umsetzen», stellte SVP-Präsident Toni Brunner (SVP/SG) zu Beginn der Debatte fest. «Das Volk ist der Chef», sagte Adrian Amstutz (SVP/BE). Die SVP werde jede Schlaumeierei bei der Umsetzung bekämpfen, nötigenfalls mit einer Durchsetzungsinitiative.
Aus Sicht der SVP hat das Volk beschlossen, dass es mit der EU keine Personenfreizügigkeit will, wie Christoph Blocher (SVP/ZH) darlegte. Für die Umsetzung schlägt die Partei eine Rückkehr zu jenen Regeln mit Kontingenten vor, die zwischen 1970 und 2002 galten.
Bilaterale notfalls opfern
Aus Sicht der anderen Parteien ist die Lage etwas komplizierter. Die SVP müsse nun klar machen, ob sie entgegen der Beteuerungen im Abstimmungskampf tatsächlich Willens sei, den bilateralen Weg zu opfern, forderten etwa Ruth Humbel (CVP/AG) und Roger Nordmann (SP/VD).
Amstutz antwortete, wenn er auswählen könne zwischen massloser Zuwanderung und den bilateralen Verträgen, wähle er den Schutz des Landes. Blocher betonte, es gehe nur um den Vertrag zur Personenfreizügigkeit, dieser müsse neu verhandelt werden. Sollte die EU die anderen Verträge kündigen, müsse man das in Kauf nehmen.
Schaden minimieren
Die Vertreterinnen und Vertreter der SP sprachen mit Blick auf die Abstimmung von einer «Zäsur». Das gesamte bilaterale Vertragsfundament sei in Gefahr, sagte Andy Tschümperlin (SP/SZ). Es gelte nun, den politischen und wirtschaftlichen Schaden zu minimieren.
Die SP will laut Tschümperlin insbesondere die Diskriminierung bestimmter Zuwanderungsgruppen bekämpfen. Es dürfe nicht sein, dass Arbeitskräfte auf dem Bau, im Gastgewerbe und in der Landwirtschaft kein Recht auf Familiennachzug mehr hätten, während dies für Kaderleute in der Finanz-, Rohstoff- und Pharmaindustrie nicht gelte.
Diskussion ohne Tabus
Generell fordert die SP eine breite Diskussion über mögliche Wege der Zusammenarbeit mit der EU. Der Bundesrat solle alle Optionen aufzeigen, auch jene des EU-Beitritts, sagte Tschümperlin. Auf die Frage, ob die SP also in die EU wolle, bekräftigte der SP-Fraktionschef, es gehe darum, alle Optionen ohne Denkverbote aufzuzeigen.
SP und Grüne möchten, dass sich das Volk in einer Abstimmung zum bilateralen Weg äussern kann. Die SVP habe einst den bilateralen Weg propagiert, um den Beitritt zum EWR zu verhindern, stellte Roger Nordmann (SP/VD) fest. Nun habe sie die bilateralen Verträge «abgeschossen». Wäre das Volk gefragt worden, ob es auf die Bilateralen verzichten wolle, hätte es wahrscheinlich Nein gesagt.
Kein Votum gegen Bilaterale
Die Rednerinnen und Redner der Mitteparteien plädierten für Pragmatismus und forderten eine Umsetzung, die eine Fortführung des bilateralen Wegs erlaubt. Das Volk habe sich nicht wissentlich gegen den bilateralen Weg ausgesprochen, sagte Jacques Neirynck (CVP/VD). «Das Volk täuscht sich nicht, aber es kann getäuscht werden.»
Martin Landolt (BDP/GL) präsentierte den Vorschlag der BDP für die Umsetzung: Die Schweiz soll die Personenfreizügigkeit weiterhin akzeptieren, aber nur bis zu einer Zuwanderungsmenge, die dem europäischen Durchschnitt entspricht. Was darüber liegt, soll mit Kontingenten und Höchstzahlen gesteuert werden.
Pragmatische Lösungen
Isabelle Moret (FDP/VD) warf sowohl der SVP als auch der SP vor, den Bundesrat bei seiner Lösungssuche zu sabotieren. Wenige Wochen nach der Abstimmung mit einer Durchsetzungsinitiative zu drohen wie die SVP oder mit dem EU-Beitritt wie die SP, sei reine Sabotage.
Roland Fischer (GLP/LU) erinnerte daran, dass in der Schweiz nicht nur die Meinung der Mehrheit zähle, sondern auch jene der Minderheiten. Diskutiert wurde ferner über die auf Eis gelegte Zusammenarbeit mit der EU in Bildung, Wissenschaft und Kultur. Viele warnten vor Schaden für den Forschungs- und Innovationsplatz Schweiz.
Demokratie auch nach Abstimmungen
Die SVP kritisierte ihrerseits erneut, dass die Initianten zur Umsetzung der Initiative zwar angehört werden, aber nicht in der Expertengruppe vertreten sind. Bei der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative sei die Partei einbezogen worden. «Sie waren es, die diese Praxis eingeführt haben», sagte Brunner zu Justizministerin Simonetta Sommaruga.
Die Redner der anderen Parteien wiesen darauf hin, dass bei der Umsetzung anderer Volksinitiativen die Initianten auch nicht gefragt würden. Gabi Huber (FDP/UR) forderte die Volkspartei auf, die Demokratie nicht nur vor Abstimmungen hochzuhalten, sondern auch hinterher. Im Umsetzungsprozess gebe es keine Sonderrechte für die Initianten.
Bundesrätin Sommaruga dankte dem Rat am Ende für die lebendige Debatte. Die Arbeiten zur Umsetzung erforderten Sorgfalt. Es gehe um komplexe innen- und aussenpolitische Fragen, die beträchtliche Auswirkungen auf die Zukunft des Landes hätten. (awp/mc/ps)