St. Gallen – Die Vielfalt der Kulturen prägt Europas Gesellschaften im 21. Jahrhundert. Welches Potenzial steckt darin? Können sich die Bewohner des alten Kontinents die Unterschiede von Sprache, Kultur und Herkunft zu Nutze machen und zugleich Konflikten begegnen?
Mit diesen Fragen beschäftigten sich Studierende, Nobelpreisträger und Gäste aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft während des zweiten Denkwettstreits «Challenge the Best» am 28. März 2011 an der HSG. «Wie können wir das versteckte Potential, das in der Vielfalt der europäischen Gesellschaft steckt, wecken und für ein friedliches Zusammenleben nutzen?»Dies war die Ausgangsfrage der Veranstaltung «Challenge the Best», welche die Studentenschaft der HSG zum zweiten Mal in Folge organisierte. 40 Studierende von 29 Universitäten aus 18 verschiedenen europäischen Ländern kamen an die Konferenz, um mit zwei Nobelpreisträgern und weiteren Persönlichkeiten über neue Wege des Zusammenlebens in Europa zu diskutieren. In einem europaweiten Essay- und Projektwettbewerb hatten sie sich für die Teilnahme beworben.
Perspektiven für das Zusammenleben in Europa
«Aktuelle Debatten über Diversität beschränken sich meist auf Fragen der Migrationspolitik. Sie verdrängen die Tatsache, dass die Vielfalt in Europas Gesellschaften ein Fakt und zugleich eine Bereicherung ist», sagte HSG-Student Moritz Dransfeld, Vorsitzender des Organisationskomitees, über die Wahl des Themas «The European Mosaic of Human Diversity – How can we discover the hidden potential in our societies?»
Vielfalt als Hindernis und «soziales Kapital»
«Wissen ist die einzige nachwachsende Ressource in Europa, über die wir verfügen», sagte Ambassador Walter Fust während der Eröffnung der Konferenz. «Es ist wichtiger, wen man kennt und wem man vertrauen kann, als was man weiss», betonte Lewis Feldstein. Gemeinschaft und Loyalität seien die Wurzel des «sozialen Kapitals» einer Gesellschaft, erklärte der amerikanische NGO-Gründer und ehemalige Präsident der New Hampshire Charitable Foundation. Jede Gesellschaft benötige einen gemeinschaftlichen Überbau, um aus der Vielfalt Nutzen zu ziehen.
Gemäss einer US-amerikanische Studie zögen sich Menschen in einer zunehmend diversen Gemeinschaft aus sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens zurück, fügte Feldstein an: Sie beteiligten sich in geringerem Masse an Abstimmungen, übernähmen keine politischen Ämter mehr, gingen nicht in die Kirche und verlören das Vertrauen in andere Menschen. «Wenn jemand sagt, Verschiedenartigkeit sei dem Sozialkapital abträglich, dann nützt es nichts, wenn man dies abstreitet. Stattdessen muss man darüber reden und es erforschen, und dann muss man diese Forschung davor bewahren, von Vertretern beider Seiten verzerrt und verdreht zu werden.»
Identität im Schmelztiegel Europa
«Europa war schon immer ein Schmelztiegel der Kulturen», sagte die deutsch-türkische Autorin und Integrationsexpertin Lale Akgün. Geboren in der Türkei, lebt sie seit bald 50 Jahren in Deutschland. Bis 2009 war sie sieben Jahre lang Mitglied des deutschen Bundestags. Identität hänge vielmehr von der Persönlichkeit und dem individuellen Charakter eines Menschen ab als von der Nationalität, betonte Akgün. Ethnische oder nationale Identität bezeichnete sie als theoretisches Konstrukt, das im besten Fall Gemeinschaftsgefühl spende, jedoch meist Konflikte provoziere. Sie sprach sich für eine Migrationspolitik aus, die Talente und Berufskarrieren von engagierten Menschen in einer von Diversität geprägten Gesellschaft fördert.
Europa «von unten her» neu gestalten
Für ein Umdenken hinsichtlich Europas Diversität trat Professor Daniel Thürer ein: «Europas multinationale Grosstädte sind die Zentren des europäischen Mosaiks», sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht. Auf Basis dieser urbanen, multinationalen Kultur lasse sich eine neue Form des Föderalismus in Europa «von unten her» aufbauen. «Europa ist nach dem zweiten Weltkrieg «top down» neu geordnet worden. Die Bewohner sollen ihren Kulturraum «from bottom up» neu gestalten» , sagte Daniel Thürer. Dies helfe, für Einheit und Ausgleich in einer pluralistischen Gesellschaft zu sorgen.
Integration in Wirtschaft und Zivilgesellschaft
Dass Diversität auch in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht «ein Muss ist, keine Option», zeigte Dr. Eberhard von Koerber, Co-Präsident des Club of Rome am Beispiel des Unternehmens ABB. Nach der Wende integrierte die Firma in den 90er Jahren rund 30?000 Mitarbeitende aus den ehemaligen Ostblockstaaten in ihre Unternehmenskultur. Derartige Arbeitsplatzintegration oder Einbindung von Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen in die Zivilgesellschaft seien Wege, um das Potential, das in der Vielfalt Europas schlummere, zu wecken. Dies helfe auch, die kleiner werdende Mittelschicht in den zentraleuropäischen Ländern zu stabilisieren.
Wissenschaftliche Gemeinschaft als Vorbild
Chancen und Probleme der kulturellen Verschiedenartigkeit waren der Schwerpunkt der öffentlichen Abschlussdebatte von «Challenge the Best» im Audimax der HSG. Der aus Buchs (St.Gallen) stammende Physik-Nobelpreisträger (1986) Professor Heinrich Rohrer machte den Wert von Diversität am Beispiel der Gemeinschaft Forschender deutlich. Die weltumspannende wissenschaftliche Gemeinschaft werte Forschung und exakte Daten höher als irgendeinen anderen Beitrag, sei dieser nun kulturell, ethnisch oder linguistisch. «Die Wissenschaft erkannte schon früh, dass eine Person, die qualitativ hochstehende Wissenschaft zu bieten hat, in der globalen «Scientific Community» gerne willkommen geheissen wird», sagte Rohrer. Die Kultur der Normen der wissenschaftlichen Gemeinschaft, welche die Beiträge der verschiedenen Kulturen achtet, ohne über ihren Ursprung zu urteilen, könne auch auf in die europäische Gemeinschaft eingebracht werden. «Ich glaube, dass Europa mit seinen Verschiedenartigkeiten zu Rande kommen muss, ohne sie jedoch abzuschaffen», sagte Rohrer.
Zugang zu verschiedenen Kulturen
Auf seine eigenen Wurzeln angesprochen, sagte Professor Sir James Alexander Mirrlees, Nobelpreisträger der Ökonomie (1996), dass er sich weder als Brite noch als Schotte betrachte.
«Es ist nie ein gute Idee, wenn man Menschen als Mitglieder einer grösseren Gruppe oder einer ethnischen Gruppe sieht», sagte Sir James, «und es ist wahrscheinlich auch keine gute Idee, wenn man sich selbst als Mitglied einer Gruppe wähnt.» Sir James führte den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland an. Als Reaktion auf den Konflikt wurden Mauern errichtet, welche die Gruppen im wörtlichen übertragenen Sinn trennen – die Schulen sind ein Beispiel dafür – wodurch die Differenzen zwischen den Lagern noch vergrössert wurden. «Ich glaube an die Verschiedenartig-keit in der Kultur, nicht die Verschiedenartigkeit von Kulturen», sagte Sir James. « Menschen sollen Zugang zu sehr verschiedenartigen Kulturen haben. Ich möchte, dass die Menschen ihre Normen wählen können, aber ich bin nicht dafür, dass sich die Menschen in ausschlaggebender Hinsicht als Mitglieder verschiedener Kulturen definieren. »
Dialog zwischen den Generationen fortführen
«Wir wollen den Dialog zwischen den Generationen fortsetzen», sagte Moritz Dransfeld zum Abschluss der öffentlichen Podiumsdiskussion. Den Austausch mit Nobelpreisträgern und Persönlichkeiten schätzte er: «Es war eine bereichernde Erfahrung für alle Studierenden. Wir hatten die Chance, zeitgemässe Perspektiven des Zusammenlebens für das 21. Jahrhundert zu entwickeln. Es war auch spannend, sich während der Pause mit Heinrich Rohrer über das Innovationspotential von Diversität zu streiten.»
Die Ideen, welche die Studierenden in St.Gallen entwickelten, bringen sie auch zu Hause oder an ihrem Studienort in die Diskussion ein. «Das Thema hat uns alle in Bann gezogen. Bereits während der Vorbereitungen der Konferenz haben wir erfahren, dass Zusammenhalt und Vertrauen das beste Mittel ist, um Hindernisse und Verständnisbarrieren zu überwinden. Die Diskussionen über Diversität haben das grösste Potential von Diversität freigesetzt und eine Gemeinschaft Gleichgesinnter mit unterschiedlichen Hintergründen zusammen gebracht», fasst Moritz Dransfeld die Erlebnisse der letzten vier Tage zusammen.
Tagungsband
Die Denkanstösse werden in einem Tagungsband veröffentlicht. An den Ergebnissen der Konferenz haben Entscheidungsträger aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft bereits Interesse bekundet ? unter ihnen Javier Solana, ehemaliger Generelsekretär der NATO und des Rates der Europäischen Union sowie Friedensnobelpreisträger Frederik Willem de Klerk.
Über Initiative «Challenge the Best»
«Challenge the Best» ist eine Initiative der Studentenschaft der Universität St.Gallen (HSG). Vorsitzender der Veranstaltung ist Alumni-HSG Beirat Walter Fust. Der Alumni-HSG Beirat, HSG-Professoren und HSG Alumni Geschäftsführer Alexander Burtscher unterstützen das studentische Organisations-Team.
Über die Studentenschaft der Universität St.Gallen (SHSG)
Die Studentenschaft (SHSG) ist eine offizielle Teilkörperschaft der Universität St.Gallen und trägt aktiv zu deren Entwicklung bei. Sie beruht auf freiwilligem Engagement und verteilt diese Leistungsbereitschaft auf zwei Kanäle: Interessenvertretung sowie Dienstleistungen und Projekte für die Studierende.
Über die Universität St.Gallen (HSG)
Internationalität, Praxisnähe und eine integrative Sicht zeichnen die Ausbildung an der Universität St.Gallen (HSG) seit ihrer Gründung im Jahr 1898 aus. Heute bildet die HSG rund 6700 Studierende aus 80 Nationen in Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Rechts- und Sozialwissenschaften aus. Mit Erfolg: Die HSG gehört zu den führenden Wirtschaftsuniversitäten Europas. Im European Business School Ranking der «Financial Times» 2010 belegt die HSG den Platz 16. Für ihre ganzheitliche Ausbildung auf höchstem akademischem Niveau erhielt sie mit der EQUIS- und AACSB-Akkreditierung internationale Gütesiegel. Studienabschlüsse sind auf Bachelor-, Master- und Doktorats- bzw. Ph.D.-Stufe möglich. Zudem bietet die HSG erstklassige und umfassende Angebote zur Weiterbildung an. Kristallisationspunkte der Forschung an der HSG sind ihre 40 Institute, Forschungsstellen und Centers, welche einen integralen Teil der Universität bilden. Die weitgehend autonom organisierten Institute finanzieren sich zu einem grossen Teil selbst, sind aber dennoch eng mit dem Universitätsbetrieb verbunden.